Kapitel 2

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Heute ist der einundzwanzigste. Mit diesen Worten im Hinterkopf betritt Kimmy das Klassenzimmer.

Betty sitzt auf dem Tisch von Max. Sie lacht und auch auf Max Lippen liegt ein Lächeln. Kimmy schiebt sich zwischen den Tischreihen hindurch, bis sie an ihrem Platz angekommen ist und die Tasche auf den Boden plumpsen lassen kann. In dem Moment, in dem die Tasche den Boden berührt, dreht sich Betty erschrocken um. Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert sie Kimmy.

„Alles okay?" Betty runzelt die Stirn und legt den Kopf schief.

„Warum soll nicht alles in Ordnung sein?" Anscheinend klingt die Antwort ziemlich zickig, denn Betty zieht den Kopf ein. Augenblicklich kriecht in Kimmy ein Schuldgefühl hoch. Sie hat Stimme nicht absichtlich den sarkastischen Unterton beigemischt. Max legt eine Hand auf Bettys rechtes Bein.

„Es war ja nicht böse gemeint!" Kimmy will gerade ein wenig beschämt den Blick abwenden, da betritt Jez, mit einem dunklen Motorradhelm in der Hand und einer ebenso dunklen Motorradjacke das Klassenzimmer und kommt auf die drei zu. Leise pustet Kimmy die Luft aus und zieht die Beine an. Als Jez und Max sich begrüßen, stupst Betty Kimmy mit dem Ellbogen in die Seite. „Hey, Kimmy. Es tut mir leid. Ich ..."

„Ist okay, war nicht so gemeint", unterbricht Kimmy sie und wendet dann das Gesicht ab. Betty sollte nicht sehen, dass sie in Gedanken nicht im Hier und Jetzt ist. Nicht, weil es ihr peinlich ist, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie sie mit ihren Problemen nicht belasten will. Lennard ist einfach ein Thema, dass sie in ihrem Herzen verschließt und an das niemand herankommen soll. Zwei, drei Mal blinzelt sie, dann dreht sie den Kopf wieder zu den anderen und nickt Jez zur Begrüßung kurz zu. Er sieht sie länger als nötig an. Verunsichert wendet Kimmy den Blick wieder ab und rutscht ein wenig näher an das Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen tanzen auf ihrem Gesicht und necken sie so lange, bis sie nach draußen sieht. Der Himmel scheint fast wolkenlos und in oranges Licht getaucht. Für einen Moment versinkt Kimmy in dem Anblick. Als etwas ihr Bein steift, zuckt sie jedoch zusammen. Jez sieht sie entschuldigend an. Sein Blick verunsichert Kimmy schon wieder. Doch anstatt ihn anzusehen – ihm dabei zuzusehen, wie er sich durch die kleine Lücke zwischen seinem und Max Tisch und dem Fensterbrett quetscht - sieht sie zur Tür und stellt fest, dass Herr Renner gerade die Tür hinter sich zudrückt und es höchste Zeit wird, von Max und Jez Tisch zu verschwinden. Mit leisen, weichen Bewegungen lässt sie sich vom Tisch gleiten und setzt sich auf ihren Stuhl.

Als Herr Renner beginnt, irgendwelche Matheformeln an die Tafel zu schreiben, ist Kimmy schon wieder weit weg, in ihrer Gedankenwelt. Sie stützt den Kopf auf die Hand, sodass sie das Gesicht immer zu Tafel gedreht hält, doch an ihren Augen kann man erkennen, dass es wichtiger Dinge als Matheformeln gibt. Vier Jahre und elf Monate. Eintausendsiebenhundertneununddreißig Tage. Und wer weiß wie viele Minuten. Langsam malt Kimmy kleine Kreise auf ihren Block. Ihr allnächtlicher Traum beschäftigt sie. Eigentlich kennt sie ihn in und auswendig. Aber diese Nacht ist ihr wieder ein Teil mehr, wie manchmal schon vorgekommen ist, ins Gedächtnis zurückgekommen und es hat sich so real angefühlt, dass Kimmy sich, als sie aufgewacht ist, erstmal selbst ermahnen musste, bevor sie in ihre Kissen zurückgesunken ist und ihr wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, dass es sich so real angefühlt hat, weil sie es wirklich so erlebt hat.

„Kimmy?! Könnest du bitte wiederholen, was ich gesagt habe?" Erschrocken zuckt Kimmy zusammen und hebt den Kopf von ihrer Hand. Zögerlich setzt sie sich gerade hin, während sie innerlich zu fluchen beginnt.

„Ähm..." Schnell versucht sie die Formeln an der Tafel zu entwirren, um wenigstens zu wissen, um was es geht. Keine einzige der Formeln kommt ihr bekannt vor. „Nein." Eigentlich ist Kimmy eine Schülerin, die lieber den Mund hält, bis der Lehrer wieder beginnt, einen Vortag zu halten, dass der Unterricht dafür gedacht ist, dass sie – die Schüler – etwas lernen und dass es respektlos ist, nicht aufzupassen. Umso überraschter sind wohl so ziemlich alle, als sie mit fester Stimme widerspricht. Herr Renner hebt die Augenbrauen und kommt auf Kimmy zu. Vor ihrem Tisch bleibt er stehen.

No tear flows without a reason!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt