Kapitel 3

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Die Sonnenstrahlen und das beginnende Vogelgezwitscher weckt sie. Ein wenig verschlafen blinzelt Kimmy ein paar Mal und nimmt die Helligkeit, die Feuchtigkeit des Morgentaus und die Naturgeräusche wahr. Sie saugt die kühle Morgenluft ein und setzt sich auf.

Die Köpfchen der Primeln auf Lennards Grab biegen sich unter der Last der Tautropfen. Mit beiden Händen reibt sich Kimmy über die Augen und scheucht die Müdigkeit weg. Langsam erhebt sie sich und streicht den Blumen über die Köpfchen, sodass die Tautropfen auf den feuchten Boden fallen. Einige Sekunden bleiben die Tropfen auf der Erdoberfläche, dann verschwinden sie darin. Kimmy sieht wieder zum Grabstein auf. Lennard Beck... An dieser Stelle könnte genauso gut ihr Name stehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wäre nicht Lennard gestorben, sondern sie... Wahrscheinlich sogar. Sofort beginnt ihr Herz zu klopfen und der ihr so bekannte Druck auf den Brustkorb kriecht aus seinem Versteck, genauso, wie ihre Finger damals geschmerzt hatten, als sie sie sich auf der Herdplatte verbrannt hat. Damals. 2007. Als alles noch gut war... Lennard war zu ihr gerannt kommen und hatte sie nur angeguckt. Ein paar Augenblicke. Dann hatte er sie an die unverletzte Hand genommen und zum Waschbecken gezogen. Langsam bahnen sich die aufsteigenden Tränen in Kimmys Augen den Weg über ihr Gesicht und versickern in dem Stoff ihres Sweatshirts.

Still und alleine sitzt sie vor Lennards Grab und weint, ohne einen Ton von sich zu geben. Immer mehr Tränen fließen über Kimmys Wangen und tropfen auf das Sweatshirt. Nach einer ganzen Weile versucht sie den Tränen ein Ende zu setzen und einmal tief ein- und auszuatmen, doch ein Schluchzen bahnt sich den Weg aus ihrem Inneren, sodass sie den Tränen wieder freien Lauf lässt. Warum versuche ich überhaupt die Tränen zurückzuhalten? Hier auf dem Friedhof wird sie doch sowieso von niemanden gesehen.

***

Jez zieht gerade das T-Shirt, in dem er bis eben noch schlaflos im Bett gelegen hat, über den Kopf und sieht dabei aus dem Fenster. Dafür, dass es erst Ende April und kurz nach sechs Uhr morgens ist, ist es schon ziemlich hell. Eine Person, nicht größer als 1,70m läuft in dunklen Klamotten bekleidet die Straße entlang und bleibt vor dem Haus schräg gegenüber stehen. Mit der rechten Hand greift Jez, ohne hinzusehen, ein T-Shirt aus seinem Schrank und fährt mit den Armen schon hinein, als er inne hält und die Person draußen interessiert beobachtet. Sie sieht sich einmal um und nimmt dann Anlauf, springt in dem Hof, dessen Untergrund aus Kies besteht, ab, bekommt mit den Händen die Dachrinne des Vordachs des Hauses zu fassen und zieht sich gekonnt und ziemlich flink daran hoch. Sie bewegt sich in der Hocke bis zu einem Fenster fort, den Rücken zu Jez gekehrt und klettert dann auf die Fensterbank. Einige Sekunden hantiert sie etwas herum, dann verschwindet sie durch das Fenster. Verwirrt macht Jez zwei Schritte auf sein Zimmerfenster zu, kann aber nichts mehr erkennen. Was war das den gerade? Verwirrt schüttelt er den Kopf. Anstatt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, streift er das Shirt über den Kopf, zieht eine Hose aus dem Schrank und schlüpft hinein. Dann stopft er die Schulsachen in eine Tasche und verschwindet im Bad.

Während er die Zähne putzt, schafft es Jez nicht, diese merkwürde Person aus seinem Kopf zu verbannen. Wer war die Person? Warum klettert sie morgens kurz nach sechs Uhr morgens durch ein Fenster in das Haus und nimmt nicht wie jeder normale andere Mensch die Haustür? Jez ist sich sicher, dass es sich schon aufgrund der Figur um keinen Junge handeln kann.

Als Jez keine Antwort auf seine Fragen findet, zwingt er sich dazu, an etwas anderes zu denken. Die Jungs gestern im Training waren schon cool drauf. ...Warum hat Kimmy in der Pause so hilfesuchend gewirkt? Warum hat sie plötzlich so einen aufgeregten, ertappten Eindruck gemacht? Warum haben Betty und Max nichts davon bemerkt? Warum hat ausgerechnet er es bemerkt? Oder hat er es sich einfach nur eingebildet? Alle Gedanken kreisen durcheinander durch Jez Kopf. Doch der letzte Gedanke will ihn nicht wirklich loslassen. Kimberly Beck. Ihr Name kommt ihm schon von dem ersten Moment, in dem er ihr erfahren hat, bekannt vor. Nur warum weiß er nicht...

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