Kapitel 1

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Jede Nacht läuft derselbe Traum auf Kimmys innerem Augenlied ab.

Wie sie mit ihrem Zwillingsbruder Lennard lachend nebeneinander auf dem Fahrradweg herfährt. Wie er sie frech ärgert, weil sie die Jüngere ist. Wie sie ihn lachend als ‚Depp' beleidigt und wie sie nebeneinander zur Straße fahren, um diese zu überqueren. Die Hauptstraße, die als Bundesstraße 36 aus ihrem Wohnort herausführt. Wie sie, Kimmy, vor Lennard losfährt. Wie sie das Auto angerast kommen sieht, aufschreit und mitsamt dem Fahrrad in den Grünstreifen neben der Straße fällt. Wie sie Lennards erschrockenes, angsterfülltes Gesicht sieht. Sekunden, bevor das Auto ihn erfasst und durch die Luft schleudert. Wie alles schwarz um sie wird. Und dann die Worte ‚Er hat es nicht geschafft.', in ihrem Kopf immer wieder widerhallten.

Dann schreckt sie hoch. Ihr Körper schweißnass, die dunkeln Haare an ihrer nassen Haut klebend, die Augen verquollen. Schwer atmend setzt sie sich auf. Einige Sekunden braucht sie jede Nacht wieder, um ihre Gedanken zu ordnen, zu warten, bis ihr Herzschlag sich normalisiert und um sich einzureden, dass alles nur ein Traum war und sie aufstehen kann, in Lennards Zimmer gehen kann und zu ihm unter seine Decke kriechen kann, wie sie es früher getan hatte, wenn es draußen gewittert hatte. Doch sie kann nicht... Sofort steigt die Trauer wegen des Verlustes ihres geliebten Bruders zu ihrem Herz.

Um Kimmy herum ist alles dunkel. Nur ein dünner Stahl Mondlicht fällt durch den Spalt des Vorhangs. Er trifft auf ihren Spiegel und wird auf ihren Nachttisch reflektiert. Auf das Bild, dass nun schon seit fast fünf Jahren dort steht. Mit einer Hand tastet Kimmy nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe, den sie mit einem leisen ‚Klick' umlegt. Die Decke um ihren Körper gewickelt, setzt sie sich nun ganz auf und nimmt das Bild in die Hand. Es zeigt sie und Lennard. Nur wenige Tage vor seinem Tod. In Gedanken versunken streicht Kimmy über das gerahmte Foto. Eine Träne bahnt sich den Weg auf ihrem Augenwinkel und fällt auf das Glas, dass das Foto schützt. Damals waren sie und Lennard gerade einmal 11 Jahre alt... Viel zu früh, um zu sterben.

Wie eigentlich jede Nacht nach ihrem Albtraum, der leider Wirklichkeit ist, beginnt Kimmy sich unzählige Fragen zu stellen, auf die wohl keiner, außer der Macher des Schicksals, eine Antwort hat. Warum ausgerechnet er? Warum musste er sterben? Warum ist er hinter ihr gefahren und nicht anders herum? Langsam legte Kimmy den Kopf in den Nacken. Aus ihren Augenwinkeln rollen die Tränen. Wie jede Nacht. Sie gibt sich keine Mühe die Tränen zu verbergen. Wer solle sie schon weinen sehen? Lennard? Ganz tief im Herzen weiß Kimmy, dass er sie sieht. Sie weiß, dass er nicht will, dass sie wegen ihm leidet. Immer wieder redet sie sich ein, dass sie nicht leidet. Sie trauert nur. Sie trauert um den Menschen der ihr nähergestanden ist als jeder andere auf dieser Welt. Einfach, weil er die Person war, mit der sie schon den Bauch ihrer Mutter geteilt hat. Und ihre Eltern? Nein. Sie würden sie nicht sehen, geschweigendem hören. Seit fünf Jahren wacht sie jede Nacht auf und weint und noch nie haben ihre Eltern sie gehört. Warum auch? Langsam lässt Kimmy das Bild auf ihre Brust sinken. Sie drückt es an sich und rutscht wieder tiefer in ihr Kissen. Das kühle Glas ist angenehm auf ihrer heißen Haut.

Den Rest der Nacht starrt Kimmy an die Decke, das Bild an die Brust gepresst.

***

Man sieht Kimmy nicht an, dass sie jede Nacht weint. Nach außen hin wirkt sie sogar glücklich. Um sechs Uhr morgens ist Kimmy aufgestanden. Sie hatte ihre Augen so geschickt geschminkt, dass man nicht sieht, wie rot sie noch immer sind.

Nun schiebt sie sich mit ihrem natürlich aussehenden, aufgesetzten Lächeln durch die Stuhl- und Tischreihen. Betty, ihre eigentlich einzige richtig richtige Freundin, die sie schon seit klein auf kennt, sitzt schon auf dem Stuhl neben ihrem. Natürlich hat Kimmy auch noch andere Freunde. Romy zum Beispiel, ist eins der besten Mädchen, die sie kennt. Trotzdem ist die Freundschaft zu Betty eine besondere. Sie ist die Einzige, mit der sie über fast alles reden kann. Außer über Lennard und Bettys Eltern.

No tear flows without a reason!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt