Kapitel 9

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Da Kimmy Betty am Vortag versprochen hat, zusammen mit ihr zum Heimspiel der A-Jungs der SuS Achern zu gehen, sitzt sie nun neben ihrer Freundin auf der Tribüne in der Ortenauhalle und beobachtet die Jungs beim Aufwärmen. Ohne es richtig zu realisieren, folgt Kimmy jeder einzelnen Bewegung von Jez. Er wirft den Handball, den er in der Hand hält, auf das Ballnetz und dreht sich dann dem Tisch an der Seitenlinie zu, an dem ein Mädchen, nicht älter als Kimmy und Betty und ein Mann, der vielleicht Mitte fünfzig ist, sitzen und einige Worte mit Jez wechseln. Das Mädchen trägt etwas handschriftlich in eine Liste vor sich ein und nimmt etwas, was Jez bis eben in der Hand gehalten hat, entgegen. Anscheinend sein Spielerpass, denn sie sieht nur kurz darauf und gibt ihn an den Mann neben sich weiter, der auch noch einmal einen prüfenden Blick darauf wirft und dann auf einen Stapel – zu den Spielerpässen der anderen SuS-Jungs - legt. Kimmy legt den Kopf schief und verfolgt Jez mit ihrem Blick, bis er – wie ausnahmslos jeder andere, der seiner und der gegnerischen Mannschaft angehört – in der Umkleidekabine verschwindet und aus ihrem Blickfeld ist. Betty sieht Kimmy an und grinst.

„Also so wie du Jez gerade beobachtet hast, stehst du wirklich auf ihn." Gegen Kimmys Willen wandert ein Lächeln auf ihre Lippen. „Oder findest ihn wenigstens süß!" Langsam hat Betty ihr schon oft genug gesagt, dass sie denkt, dass sie auf Jez steht. Sie dreht den Kopf Richtung Spielfeld, als sie aus dem Augenwinkel wahrnimmt, dass die Mannschaften das Spielfeld betreten. Kimmy lässt den Blick über die Jungen in den blauen Trikots wandern, die sich auf einer Spielfeldhälfte verteilen. Max steht mit dem Rücken zu ihr und Betty. Auf seinem Rücken prangt groß die Nummer vierzehn, die schon seit der F-Jugend quasi sein Eigentum ist. Jez kommt auf Max zugelaufen, klatscht ihn ab und dreht sich dann, genau wie Max, mit dem Rücken zu Kimmy und Betty. Das Lächeln aus Kimmys Gesicht verschwindet, als sie die Nummer neun auf Jez Rücken entdeckt. Sie blinzelt und vergewissert sich noch einmal, dass sie sich wirklich nicht täuscht.

„Ich geh schnell aufs Klo", murmelt sie, schiebt sich an Betty vorbei und versucht, ihr Gesicht so gut wie möglich zu verbergen.

Wie sie den Weg bis auf die Toiletten zurückgelegt hat, weiß Kimmy nicht mehr, als sie eine der Kabinentüren hinter sich abschließt, den Klodeckel herunterklappt und sich daraufsetzt. Sie zwingt sich dazu, ruhig zu atmen und die Tränen, die heiß hinter ihren Augenlidern brennen, zu unterdrücken. Das kann doch nicht wahr sein! Jez kann doch nicht einfach Lennards Nummer bekommen! Fast fünf Jahre hat die Mannschaft darauf geachtet, dass niemand in ihrer Mannschaft die Nummer neun – Lennards Nummer – auf dem Rücken trägt und jetzt... Mit fahrigen Fingern fährt sich Kimmy durch die Haare und das Gesicht. Warum? Warum ausgerechnet Jez? Warum hat nicht einmal mehr Max etwas davon oder dazu gesagt? Hörbar atmet Kimmy mehrmals aus. Das erdrückend schwere Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, lassen die Tränen aus ihren Augen rollen. Anfangs kämpft sie dagegen an, wischt sie vorsichtig weg und versucht sich zu beruhigen, doch die Einsicht, dass Lennard für seine Mannschaft ersetzbar ist, trifft sie so hart, dass sie die Kontrolle über ihre Gefühle verliert.

„Solche Arschlöcher...", murmelt sie leise, schließt die Augen und atmet leise aus. Wie kann man so verlogen sein? Ihr, ihrer Familie, allen vorzugaukeln, dass Lennard ihnen immer in Erinnerung bleibt und dann das...

Nachdem die letzten Tränen über Kimmys Wangen gerollt sind, wartet sie noch eine Weile und lauscht, ob wirklich niemand sonst auf dem Klo ist, bevor sie die Tür aufschließt, zu den Waschbecken nach vorne geht. Die Fassungslosigkeit ist mittlerweile in Wut umgeschlagen. Um sich irgendwie abzulenken, sieht sie ihr Spiegelbild prüfend in einem mit von Putzmittel überzogenen Streifen an. Zu ihrer eigenen Verwunderung sind weder Kajal noch Wimperntusche verwischt. Allein die leichte Rötung ihrer Augen spricht noch dafür, dass sie gerade geweint hat. Kimmy dreht entschlossen den Wasserhahn auf, leider genauso, wie sie es in der Schule auch immer macht. Das Wasser spritzt ihr entgegen und hinterlässt nasse Spuren auf ihrem Oberteil. Fluchend dreht sie den Wasserhahn wieder zu, sieht in den Spiegel und seufzt. Wenigstens hat sie jetzt eine Beschäftigung, bis ihre Augen nicht mehr so rot sind... Mit beiden Händen zieht sie das Top ein wenig von ihrem Körper weg und hält es unter den Handfön. Seufzend betrachtet sie die Wasserflecke. Auch wenn sie nicht will, die Wut in ihr lässt sie weiter grübeln, warum die Jungs Lennard und mehr oder weniger sich selbst so in den Rücken fallen können. Sie versteht die Jungs einfach nicht. Nach Lennards Tod haben sie beschlossen, dass sie an keinen ‚Neuen' mehr die Nummer neun vergeben werden. Als Zeichen, dass Lennard immer zu der Mannschaft zählen wird. Dass sie in jedem neuen Trikotsatz die Nummer neun mit bedrucken lassen haben, hat sie nur einmal am Rand mitbekommen... aber dass sie Jungs ihr eigenes Versprechen brechen...

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