Kapitel 4

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Unauffällig wirft Kimmy Jez einen Blick zu. Er wirft immer wieder mit einer Hand einen der Handbälle in die Luft und fängt ihn mit beiden Händen auf. Herr Renner erläutert der Klasse gerade die wichtigsten Handballregeln noch einmal, doch diese kennt Kimmy und so sieht sie sich nicht verpflichtet, den Worten des Lehrers zu lauschen. Viel lieber verfolgt sie die geschmeidigen Bewegungen von Jez.

„In das zweite Team bitte Max, Solena, Erik, Daniel, Tom, Jan und Kimberly." Erschrocken zuckt Kimmy zusammen. Manchmal ist es doch wenigstens ein bisschen sinnvoll, zuzuhören.

„Gehst du auf rechts außen?" Wieder zuckt Kimmy zusammen. Sie hat gar nicht gemerkt, dass Max auf sie zugekommen war und sie angesprochen hat.

„Was?" Kimmy sieht Max verwirrt an.

„Rechts außen?"

„Äh, klar." Max sieht sie amüsiert an, doch als sie zielsicher auf die Position ‚Rechts Außen' zusteuert, nickt er ihr anerkennend zu.

Herr Renner verteilt an die vier Mannschaften verschiedenfarbige Leibchen. Kimmy zieht sich das blaue Leibchen über den Kopf und stellt erst dann fest, dass sie es natürlich falsch herum angezogen hat. Hecktisch schlüpft sie wieder heraus, und quält sich in das nach Schweiß stinkende Leibchen.

„Team Blau hat Anwurf!" Max und Solena gehen in die Mitte, an den Kreis, Kimmy und die anderen verteilen sich um sie. Mit einem kurzen Blick versucht Kimmy auszumachen, wer ihr Gegenspieler ist, doch sie kann nicht erkennen, wer auf welcher Position steht.

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„Letzter Angriff von Team Rot, dann ist Wechsel!" Kimmy läuft rückwärts, bis zum eigenen Kreis und hebt die Arme. Ausgerechnet Jez ist ihr Gegenspieler! Es ist ja nicht so, dass sie schon mit einem Handballlaien als Gegenspieler überfordert wäre. Im letzten Angriff hat sie es dennoch geschafft, sich einfach unter Jez Arm durchgeschlängelt, was er, als Handballer, natürlich nicht auf sich sitzen lässt. Jez setzt gerade zum Sprungwurf an. Kimmy greift mit beiden Händen nach seinem T-Shirt und versucht ein Hindernis für ihn zu sein. Stattdessen zieht Jez Kimmy aber einfach mit in den Kreis. Sie stolpert über ihren eigenen Fuß und krallt sich tiefer in Jez Leibchen, um nicht mit voller Wucht auf den Rücken zu krachen. Jez lässt genau in diesem Moment den Ball los – der keine Sekunde später im Tor einschlägt – und fällt dann. Mit beiden Händen fängt er sich hektisch ab, als ihm bewusst wird, dass er Kimmy unter sich begrabe würde. Trotz allem spürt Kimmy das Gewicht von Jez auf ihrem Bauch und ihrem Brustkorb, seine Körperwärme und seinen Atem in ihrem Gesicht. Für den Bruchteil eines Bruchteiles einer Sekunde sieht Kimmy in Jez funkelnde Augen. Aber eben nur für einen Bruchteil eines Bruchteiles einer Sekunde. Im nächsten Moment drückt Jez sich nach oben, springt auf beide Füße und hält Kimmy beide Hände hin, als sie sich aufsetzt. Sie greift danach und lässt sich von Jez hochziehen. Aus einem für sie unerklärlichen Grund fühlen sich Kimmy Beinen so an, als wäre sie gerade aus irgendeiner Achterbahn gestiegen, weshalb sie sich an Jez festhält.

„Alles okay?" Jez Stimme ist so leise, dass nur Kimmy ihn hören kann.

„Die hast du, Jez!" Sofort lässt Jez von Kimmy ab und dreht sich um. Einer von den Jungs, der in einem der Teams ist, das auf der Bank sitzt, grinst. Reflexartig senkt Kimmy den Kopf, sodass man ihre Schamesröte nicht sieht und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihren Haarspangen gelöst hat.

„Okay, Team Rot hat gewonnen! Gelb gegen Grün bitte!" Kimmy läuft, mit immer noch mit gesenktem Kopf zur Bank. Sie lässt sich darauf fallen und sieht aus dem Augenwinkel, wie Herr Renner einige Worte mit Jez wechselt, beide grinsten und Jez sich dann zu ihr wendet und auf die Bank zu kommt.

***

Mit dem Fuß kickt Kimmy einen unsichtbaren Stein weg. Sie vermeidet es, Max, Betty oder geschweige dem Jez in die Augen zu sehen. Irgendwie kommt sie sich dumm vor. In der Klassenstufe gehen so oft Gerüchte herum, welcher Junge gerade etwas mit welchem Mädchen Laufen hat, obwohl es in den meisten Fällen gar nicht stimmt. Wieso fühlen sich die drei Worte ‚Die hast du!' aber so wahr und real an?

No tear flows without a reason!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt