Twenty-Two

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Gedankenverloren trockne ich meine mittlerweile schrumpeligen Hände ab und reibe das Spülbecken aus, bevor ich mich mit meinen Armen an der kalten Metallarbeitsplatte abstütze und zu den Jungs blicke.
Die aktuelle Situation fühlt, hört und ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie ich mir den restlichen Abend vorgestellt und geplant habe. Eigentlich hatte ich überhaupt nichts geplant. Trotzdem ist er bisher nicht so geworden wie gedacht. Und besser wird es vielleicht nicht mehr. Zumindest nicht so schnell, wie ich es mir wünschen würde. 

"An was denkst du, Bärchen?" 
Kilians Stimme lässt mich zusammenzucken, beruhigt mich aber gleichzeitig so sehr, dass meine Gedanken kurz in den Hintergrund rücken.
"Daran, wie komisch und unvorstellbare diese Situation noch heute morgen für mich gewesen wäre. Und daran, dass das Diner seit über einer Stunde geschlossen ist, ich aber immer noch hier stehe, statt mich auf den Heimweg zu machen." 
Stark drücken mich zwei starke Arme an seine Brust und sein Schnauben, was höchstwahrscheinlich ein Lachen überspielen soll, löst etwas in mir aus, dass mich innerhalb einiger Sekunden dazu bringt, wie ein Idiot vor mich hin zu lächeln und den Kopf nach vorne und hinten wippen lässt, wobei mein Körper schneller agiert als mein Gehirn.
Das Zischen hinter meines Kopfes und der dumpfe Druck an meinem Hinterkopf ist einer der Indizien für das Zusammenstoßen unserer Köpfe. 

Kilians lachen hallt in mein Ohr.
"Du Dickköpfchen." 
Gespielt entrüstet öffne ich meinen Mund und sehe im zu, wie er seine Arme von mir löst und sich über sein Kinn reibt. Anscheinend versucht er dadurch, den Schmerz zu lindern, was aber nur zu einem geröteten Kinn führt und einem Deja-Vü in meinem Kopf. 

"Das letzte Mal, als du so reagiert hast, habe ich dich mit dem Pfefferstreuer erwischt." 
Kurz scheint es als ob er überlegen müsste, was aber mit hundertprozentiger Sicherheit gespielt ist. Das Funkeln seiner Augen verrät ihn, genau wie das Grinsen in seinem Gesicht.
"Es wundert mich, dass du dich daran noch erinnern kannst. Aber da du es erwähnst, wird mir bewusst, wie sehr du diesen Pfefferstreuer magst und für alle möglichen Morddrohungen und Anschläge benutzt."
Wo Kilian Recht hat, hat er Recht. Daran kann man nichts ändern. Wobei es damals ein Unfall war oder eher gesagt ein Versehen.
"Ich konnte damals ja nicht wissen, dass du unbedingt in meinem Ausholradius stehst. Außerdem war es ja nie direkt an dich gerichtet gewesen, sondern an Josh, der, ohne mich vorher zu fragen, das letzte Stück Pizza gegessen hatte. Und jeder weiß, wie ich bei Essen reagiere, das mir weggenommen wird." 
"Oh ja. Das wissen wir" kommt gleichzeitig von meiner rechten, also von Kilian und von meiner linken, Caiden. 
Kilian zieht belustigt eine Augenbraue hoch, ehe er Caiden die Frage stellt, die sich normalerweise, aufgrund seiner Reaktion, schon selbst beantworten lässt. 
"DU hast aber, hoffe ich doch mal, nicht ihr Essen gegessen, trotz Vorwarnung. Oder etwa doch?" 
Unschuldig sieht er ihn mit einem Grinsen an, welches der wohl schönsten Werbung Konkurrenz machen könnte, so schön wie es ist. Vielleicht liegt es aber auch nur an meiner aktuellen Gefühlslage im Bezug zu ihm, dass sich mein Magen wie in einer Knetteigmaschine anfühlt. 
Doch ich wäre ja nicht Jona Harrison, wenn ich nicht in der Lage wäre, meine Gefühle zu verdecken. Zumindest teilweise und großflächig.

"Er hat seine Abrechnung schon mit dem Pfefferstreuer gemacht. Gelernt hat er aber daraus nicht. Das nächste Mal muss er wohl doch draußen in der Hundehütte schlafen." 

Kaum hat der letzte Satz meinen Mund verlassen und ich sehe wie sich ein weiteres Grinsen von Caidens Mund in seine Augen zieht und ihn strahlen lässt, wird mir bewusst, was ich soeben unterschwellig zugegen habe.
Es wird ein weiteres Mal geben, dass er in meinem Heim schlafen darf.
Er wird wieder bei mir Zuhause essen.
Und wenn ich ehrlich bin, habe ich mit diesem Gedanken auch kein Problem. 

Ich sollte ihn eigentlich noch eine Weile hassen. Doch ich kann es irgendwie nicht. Eventuell will ich auch einfach nicht. Jahrelang habe ich Josh und andere Leute gehasst, bis zu dem Punkt, an dem ich keine Energie mehr dazu hatte. Bis ich fertig damit war, anderer Leute Fehltritte so hin- und herzudrehen, damit es für mich Sinn ergibt und einen Grund darstellt, sie, egal aus welchem Grund, in meinem Leben zu lasen. Sie es Hass oder einfach nur pures Stur sein meinerseits.

In Kumpelhafter Manier klopft mein bester Freund dem, jetzt nahezu kleinkindähnlichen freuenden jungen Mann, auf die Schulter. "An deiner Stelle würde ich mich anstrengen. Sie kann es wirklich ernst meinen mit der Hundehütte als Schlafplatz. Und glaube mir, die ist zum Übernachten überhaupt nicht bequem. Kann ich dir aus eigener Erfahrung heraus übermitteln." 

Überrascht sieht Caiden mich an, doch ich zucke nur mit den Schultern, während ich meine Jacke von der Garderobe nehme und das Licht des Diners am Stromkasten ausschalte. 
"Jungs. Es wird Zeit, dass wir gehen. Ich habe Hunger und ihr zwei müsst noch einen weiteren Weg hinter euch bringen, wie ich, bis ihr euch in euer Bett legen könnt. Also. Hopp, hopp. Raus hier." Während ich das sage, fuchtle ich ein wenig mit meinen Händen und scheuche beide durch den Vordereingang hinaus, bevor ich diesen abschließe.

Das Wetter ist immer noch unverändert und drängt mich dazu, meine Kapuze der Jacke über den Kopf zu ziehen und die Hände in die Jackentaschen zu stecken. Normalerweise habe ich nichts gegen regnerische Abende, die schon eher an ein Gewitter heran kommen. Heute Abend jedoch, ist es irgendwie anders. Der Himmel ist dunkler, die Stimmung drückender und selbst die Vögel scheinen aufgeregter zu sein, als gewöhnlich. 

Beide Männer bleiben vor einem Auto stehen, dessen Geruch, Sitze und letzter Kontakt mit mir, sich anfühlt, als wäre es erst einige Sekunden her und nicht mehr als ein halbes Jahr. Neonfarbenes Licht der Reklamation, die unser Diner schmückt, fällt auf beide und lässt sie zusammen mit dem Auto wirken, wie eine Szene eines 90er-Jahre Filmes, den ich aber um keinen Preis der Welt verpassen wollen würde. 

Ich bin schon bereit, genau wie meine Beine, den Weg der noch vor mir liegt zu Fuß zurück zu legen, als Kilian mich auffordert in das Auto zu steigen. 
"Caiden wird hinten sitzen. Er ist ja immerhin noch ein Kind und darf laut Straßenverkehrsgesetzt-was-weiß-denn-ich noch nicht vorne fahren." Sein Grinsen ist trotz des Lichtes genauestens zu erkennen. Sei es durch den Ton seiner Stimme, oder weil ich ihn schon lange genug kenne um solche Dinge zu erkennen. "Fährst du mit?"

Ohne eine Antwort zu geben, laufe ich auf die Beifahrertür zu und steige ein.
Natürlich fahre ich mit. Was denkt er denn, bitte? 
Der Geruch meines besten Freundes ist so überschwänglich, dass er beinahe den Geruch von Caiden überdeckt. Aber eben nur beinahe. Er ist so prägnant und versetzt mich zurück an den Abend, an dem alles nach Chlor und ihn roch.
An den Abend unter den Sternen. 
An den wunderschönen Abschiedskuss, den ich, aus reinem Prinzip, nicht so schön finden sollte. 
Tief hole ich Luft um meine Nerven irgendwie zu beruhigen, was aber nicht klappt, bevor Kilian einsteigt und das Auto startet und wir uns auf den Weg machen.

Wohin wir uns genau auf den Weg machen, kriege ich nicht mit. Nur den stechenden Blick von Caiden, den ich durch den Seitenspiegel genauestens sehen kann und mir mit seinen so fabelhaften ozeanblauen Augen so tief in die Seele sieht, dass ich Angst habe zu ertrinken.
Doch, Gott, wäre ich froh jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde in diesen wunderschönen Augen ertrinken zu können. 

Zigaretten, Spaghetti & GummibärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt