Prolog

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Für  Chaoskingdom

Danke, dass du mich von Anfang an bei diesem Projekt begleitet hast und mich und meine Sprachnachrichten ausgehalten hast! Ohne dich würde diese Geschichte hier nicht so stehen!


I thought I'd stand tall, and shake the ashes off,

I told myself that I could be strong




Daichi

Seit dem Anruf vor ein paar Wochen, hatte ich das Gefühl, dass sich mein Körper auf Autopilot geschalten hatte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie ich die letzten drei Wochen überstanden hatte. Noch immer hörte ich die sachliche Stimme des Polizisten aus Yamagata, der mir am Telefon mitgeteilt hatte, dass meine Familie bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ich fragte mich immer noch, wie er diese schreckliche Mitteilung mir so gefühllos hatte mitteilen können. So, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt, wenn eine komplette Familie einfach so bei einem Autounfall ausgelöscht wurde. Klang ich auch so, wenn ich auf der Arbeit jemand mitteilen musste, dass ein geliebter Mensch gestorben war?

„Herr Sawamura. Es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter und Ihre Geschwister ums Leben gekommen ist."
Dieser Satz kreiste immer wieder in meinen Kopf herum und ließ mich nicht mehr los. Es war der Satz gewesen, der mein komplettes Leben in einen einzigen Scherbenhaufen verwandelt hatte. Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester - sie alle sollten nicht mehr am Leben sein... Noch immer konnte ich noch nicht ganz begreifen, was das alles bedeutete. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich meine gesamte Familie verloren hatte.

Ich erinnerte mich noch an den Abend der Schreckensnachricht, als wäre es gestern gewesen. Es war ein Samstag und ich hatte mir gerade die Schuhe nach einem langen Arbeitstag ausgezogen, als das Telefon klingelte. Mein Plan für den Abend war eigentlich gewesen, dass ich mir eine Pizza in den Ofen schob und mich vom Fernseher berieseln ließ. Eigentlich hätte ich an diesem Tag frei gehabt und sollte die Familie auf ihrem Tagesausflug begleiten. Schon vor Monaten hatte wir alle gemeinsam eine Wanderung in den Bergen geplant.

Ich sah sie durch meinen Job sowieso viel zu selten und hatte mich auf den gemeinsamen Tag gefreut. Für mich war die Familie immer sehr wichtig gewesen und sie hatten immer zu mir gehalten. Auch wenn ich kaum Zeit für sie hatte. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich diesmal nicht Absagen würde. Allerdings war kurzfristig auf meiner Dienststelle ein Kollege krank geworden und es gab niemanden, der seine Schicht übernehmen konnte. So musste ich früh am Morgen meine Schwester anrufen und ihr schweren Herzens absagen. Auch wenn sie versucht hatte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, hatte ich sie deutlich herausgehört. Auch sie hatte sich gefreut mich mal wieder zu sehen. Inzwischen bereute ich es, dass ich auf der Arbeit zugesagt hatte. Vielleicht hätte ich den Unfall verhindern können, wenn ich da gewesen wäre. Meine Familie hatte ich das letzte Mal an Neujahr gesehen. Damals hatten wir uns alle noch ein fröhliches neues Jahr gewünscht, hatten gemeinsam gelacht und uns auf das kommende Jahr gefreut. Ich hatte ihnen versprochen, dass ich sie öfters besuchen komme. Dabei hatte ich auf ganzer Linie versagt. Die Erkenntnis, dass ich nie wieder mit meinem Bruder oder meiner Schwester zusammen auf der Terrasse sitzen und Karten spielen würde. Nie wieder zu ihnen sagen konnte, dass ich sie liebte.

Ich hatte noch nicht mal die Gelegenheit gehabt mich richtig von ihnen zu verabschieden. Die letzten Worte an meiner Schwester waren, es tut mir leid gewesen. Hätte ich damals gewusst, dass es unser letztes Gespräch sein würde, hätte ich ihr gesagt, wie wichtig sie mir doch war, wie sehr ich sie liebte und wie sehr ich doch als Bruder versagt hatte.

Wenn ich nicht die Schicht hätte übernehmen müssen, wäre ich bei meiner Familie gewesen und vielleicht hätten sie dann überlebt. Vielleicht wäre ich, dann derjenige gewesen, der am Unfallort verunglückt wäre. Das wäre besser gewesen. Ich war alleinstehend, würde niemanden zurücklassen und Torioo hätte noch immer eine Mutter.

Vielleicht wäre der betrunkene Autofahrer nicht in das Auto meiner Schwester gerast, sondern in meins. Dann wäre ich von der Fahrbahn abgekommen und wäre gegen den Baum gefahren. Ich wäre verletzt wurden und hätte es nicht geschafft bis der Krankenwagen eingetroffen wäre.

In den letzten Wochen hatte ich ständig diese Was-wäre-wenn-Gedanken und alle Szenarien schienen besser zu sein, als die Realität. Denn diese war die reinste Hölle.

Noch während des Telefonats, war ich wieder zur Haustür geeilt und hatte mir meine Schuhe angezogen. Mein Herz hatte sich krampfhaft zusammengezogen und ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gekippt. Das Blut war in meinen Adern gefroren, als der Beamte mir erzählte, dass meine Familienangehörigen ihren Verletzungen erlegen waren.

„Was ist mit Torioo Miwa?" Noch immer wusste ich nicht, wie ich es geschafft hatte meine Stimme bei der Frage, was mit meinen Neffen war, so ruhig klingen zu lassen. Innerlich war in mir alles zerbrochen. Meine Knie hatten gezittert und ich hatte das Gefühl, dass ich jeden Moment zusammenbrechen würde. Aber ich hatte diese Frage stellen müssen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Beamte kein Wort über meinen Neffen verloren.

Für einen kurzen Moment trat ein unangenehmes Schweigen am Telefon ein und ich hörte, wie der Polizist am anderen Ende der Leitung seine Unterlagen durchwühlte. Als er zu sprechen begann, blieb mein Herz kurz stehen und ich rechnete schon mit dem Schlimmsten. Aber Torioo hatte Glück gehabt. Er war der Einzige gewesen, der diesen Unfall überlebt hatte.

Zwar schwebte er noch in Lebensgefahr und es war nicht klar gewesen, ob er überleben würde. Aber das war mir in diesem Moment egal. Sein Herz schlug noch. Er lebte noch. Das war alles, was erst einmal zählte. Die ersten Wochen hatte Torioo auf der Intensivstation verbracht und hatte um sein Leben kämpfen müssen, aber letztendlich hatte er es geschafft.


Die erste Woche war mit Abstand die Schlimmste gewesen.
Während ich mich sofort ins Auto gesetzt hatte, um nach Yamagata zu fahren, musste ich an all die Dinge denken, die ich mit meiner Familie erlebt hatte. Angefangen von der Feier, als ich mit meinen Volleyballteam zu den nationalen Meisterschaften gefahren war, die Hochzeit meiner Schwester, all die Geburtstagsfeiern, die Geburt meines Neffen.

Am liebsten wäre ich noch in meinen Flur zusammengebrochen und wäre in meiner Trauer versunken. Aber der Gedanke an meinen siebenjährigen Neffen, der gerade im Krankenhaus um sein Leben kämpfte und mich brauchte, trieb mich irgendwie an. Auch wenn ich selbst nicht so genau wusste, wie ich es geschafft hatte ins Auto zu steigen und ohne große Zwischenfälle nach Yamagata zu fahren.

Für Trauer hatte ich keine Zeit, denn der plötzliche Tod meiner Familie, zog viele Dinge nach sich, die ich erledigen musste.
Ich musste die Leichen identifizieren. Mich um die Beerdigung kümmern. Das Haus meiner Schwester musste verkauft werden und die Wohnungen von meinem Bruder und meiner Mutter mussten ausgeräumt werden. Sowohl mein Bruder als auch meine Schwester waren nach der Schule nach Yamagata gezogen, während ich wegen meines Jobs in Miyagi geblieben war. 

Mein Bruder wegen seinem Job und meine Schwester wegen der Liebe. Jedoch war ihr Ehemann kurz nach Torioos Geburt an Krebs gestorben. Es war eine verdammt beschissene Zeit gewesen und trotzdem hatte Jun das Leben geliebt. Sie hatte alles für ihren Sohn getan und hatte Torioo immer eine Familie gegeben, die er gebraucht hatte. Sie war auch die Einzige gewesen, die von uns dreien eine Familie gegründet hatte.

Mein Bruder hingegen hatte das Junggesellenleben in vollen Zügen genossen. Er war noch nie der Mensch gewesen, der sich auf Beziehungen einließ. Aus seiner Sicht hätte ihn eine Beziehung in seinem Leben nur eingeschränkt.

Während ich all die organisatorischen Dinge erledigte, hatte ich täglich meinen Neffen im Krankenhaus besucht. Die erste Woche hatte ich neben seinem Bett gesessen und jede verdammte Sekunde darum gebeten, dass er den Kampf, um Leben und Tod gewinnen möge. Er war noch zu jung, um zu sterben und hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Außerdem war er noch das Einzige lebende Familienmitglied, das ich hatte und ich würde es nicht ertragen, wenn ich auch noch ihn verlieren würde.

Die zweite Woche war fast genauso schlimm wie die Erste. Torioo hatte zwar den Kampf gewonnen und schwebte laut den Aussagen der Ärzte nicht mehr in Lebensgefahr. Dennoch stand er unter strenger Beobachtung und in seinen Augen war deutlich der Schmerz zu sehen. Die Nachricht, dass er wieder gesund werden würde, war die einzige Gute in diesem Albtraum.

Es war schrecklich, als er aus dem Koma wieder aufgewacht war und er sich suchend nach seiner Mutter umgeblickt hatte. Er hatte zwar nicht nach ihr gefragt, aber sein Blick hatte mir verraten, dass er ahnte, dass sie nicht mehr da war.
Es war schon schlimm genug, dass er ohne einen Vater aufwuchs. Aber jetzt war Torioo ein Waise...

Dazu kam noch die bevorstehende Beerdigung, die mir das Herz zerbrach.
Jeden verdammten Abend, wenn ich in mein Hotelzimmer zurückkehrte, hätte ich mich am liebsten unter der Bettdecke verkrochen und wäre nie wieder herausgekommen. Eigentlich hätte ich auch im Haus meiner Schwester oder in die Wohnung meines Bruders schlafen können, aber ich hielt es dort höchsten für ein paar Stunden aus. Die Erinnerungen, die ich mit den Räumen verband waren einfach zu schmerzhaft und drohten mich zu überrollen. Aber ich konnte jetzt nicht zusammenbrechen. Zwar hatte ich mir einen Anwalt zur Hilfe geholt, um die organisatorischen Dinge zu regeln, aber ich allein musste für meinen Neffen stark sein. Er hatte ja nur noch mich.

Einzig und allein diese Tatsache gab mir die Kraft weiterzumachen und nicht in meinen Gedanken zu versinken. In der zweiten Woche stellte ich auch einen Antrag für meine Versetzung nach Yamagato. Ich wollte meinen Neffen nicht aus seinem gewohnten Umfeld reißen. Er hatte schon genug damit zu tun, das Erlebte zu verarbeiten. Doch leider wurde meine Versetzung nicht bewilligt, sodass mir nichts anderes übrigblieb, als ihn mit nach Miyagi zu nehmen.

„Nun seine Verletzungen heilen gut. In ein paar Monaten werden sie verheilt sein. Ein paar Narben werden natürlich bleiben. Die Berichte der Physiotherapie sehen auch insgesamt gut aus. Neben einem Physiotherapeuten sollten sie auch in Miyagi einen Psychologen aufsuchen. Seitdem er wieder aus dem Koma aufgewacht ist, hat er kein einziges Wort gesprochen.", sprach der Arzt bei der Entlassung.

„Verstehe.", gab ich nur als Antwort und blickte zu den Siebenjährigen, dessen rechter Arm in Gips eingehüllt war. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch lebte und darüber war ich einfach nur unendlich erleichtert. Ich war zuversichtlich, dass sich auch der Rest wieder legen würde. Jedenfalls hoffte ich das. So ein Schicksalsschlag verändert einen komplett. Torioo war immer ein fröhlicher aufgeweckter Junge gewesen, der nie stillsitzen konnte und jetzt saß er auf seinen Stuhl und blickte mit trüben Augen auf den Verband an seinem Arm.

Seitdem er aus der Intensivstation entlassen wurden war, hatte er kein Wort gesprochen und schien es auch nicht zu wollen. Und es war okay. Er trauerte genauso um seine Eltern und Großeltern wie ich und begriff wahrscheinlich gar nicht, was das alles genau bedeutete. Genau aus diesem Grund hatte ich mich in den letzten Wochen gezwungen stark zu bleiben und weiterzumachen. Für ihn...

Torioo hatte es verdient, trotz allem eine lebenswerte Kindheit zu haben und ich würde alles dafür geben, damit er diese auch hatte.
Morgen würden wir beide wieder nach Miyagi aufbrechen und dort zusammen einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Einen Lebensabschnitt mit dem Torioo hoffentlich glücklich werden würde...

Art of Moving onWo Geschichten leben. Entdecke jetzt