06; Amelie

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,,Seit wann bist du eigentlich so besitzergreifend?"

Linus lässt seine Hand und damit auch das Glas, aus dem er scheinbar in dem Moment trinken wollte, sinken. Fragend hebt er eine Augenbraue und wartet wohl auf eine genauere Beschreibung der Situation, die ich ansprechen will, bevor er sich äußert.

,,Naja, schon auf dem Weg zum Museum hast du deinen Arm um mich gelegt, als sich ein Mann zu uns gesetzt hat und danach machst du den Verkäufer in dem kleinen Schmuckladen richtig zur Schnecke, als der meinte, dass mir die Kette gut steht. Er hat doch nur seinen Job gemacht, genau wie der Pizzabote, den du auch mit passiv aggressiven Worten abgespeist hast, als der mich begrüßt hat. So warst du früher nicht. Hast du kein Vertrauen in mich, dass ich den möglichen Angeboten widerstehen kann?"

,,Natürlich vertraue ich dir."

,,Warum verhälst du dich dann so?"

,,Ich verhalte mich doch gar nicht anders, das kommt dir nur so vor."

,,Nein, du hattest nie ein Eifersuchtsproblem. Du bist nicht so und das weiß ich. Du verstellst dich und ich kann den Grund dafür einfach nicht ausfindig machen. Liebst du mich nicht mehr und spielst daher eine andere Version von dir? Wenn es das ist, dann sag es mir bitte jetzt ehrlich ins Gesicht, statt mich anzulügen und eine Seifenoper zu miemen."

,,Ich möchte dir eben nah sein und ich liebe dich noch immer abgöttisch, merkst du das etwa nicht?"

,,Doch, an sich merke ich das, aber es passt halt nicht dazu, dass du dich plötzlich ganz veränderst, sobald fremde Personen in unserer Nähe sind. Was ist mit dir los? Muss ich mir Sorgen um dich machen? Kann ich etwas ändern?"

,,Ich... ich habe einfach nur Angst, dass du mich verlässt, weil ich dir zu langweilig geworden bin."

,,Würde ich dich dann seit so langer Zeit jährlich sehen wollen?"

,,Bestimmt nicht, du hast ja Recht, aber ich habe einfach solche Angst bevor, dass ich alleine dastehe und dich nur noch geschäftlich sehe, sobald der Sommer dem Herbst weicht."

Wir haben bisher selten über unsere Gefühle gesprochen seitdem die Worte 'ich liebe dich' unwiderruflich ausgesprochen waren, denn ab da gab es kein Zurück mehr. Er hatte mein Herz fest in seinen behutsamen Händen und auch seines hängt seitdem bei mir, wie das wertvollste Bild der Welt bewacht, dass sich ihm niemand auch nur minimal nähern kann, dass er bei mir bleibt, mein wertvollster Schatz. Ich weiß, dass wir nicht mehr frisch verliebt sind, schon lange nicht mehr, aber wir sind auch nicht alt, besonders nicht so alt, dass wir auf jahrzehntealte Erinnerungen zurückgreifen müssten, weil für neue die Kraft schwindet. Wir sind in der Blütezeit und das schon eine Weile, aber wir haben scheinbar uns selbst aus den Augen verloren, denn sonst sollte er nicht so verletzlich klingen. Ich bereite meine Arme aus und ziehe seinen Kopf zu mir. Wie von alleine lässt Linus seinen Kopf von mir auf meinem Schoß platzieren, während sich sein muskulöser Körper auf dem Sofa eine neue bequeme Position sucht. Wir sind still, das sind wir selten, aber manchmal lassen wir die Emotionen auf unseren Zungen zergehen, als wäre jede Regung ein anderer Geschmack und man will sich Zeit nehmen, um keinen zu verpassen.

,,Es war gut, dass du mich gestoppt hast, sonst wäre Hektor bald hier und wir müssten uns trennen."

,,Ich weiß, es tut mir trotzdem leid, dass wir dieses Jahr so wenig Zeit haben. Ich will dich nicht zu ihm gehen lassen, stattdessen sollst du für immer hier bleiben."

,,Wie soll das gehen? Wir haben doch längst alles probiert."

,,Ich weiß, ich weiß aber auch, dass wir nur noch wenige Tage haben, bevor ich weiterziehen muss. Wie halten wir das nur aus?"

,,Ich weiß es nicht."

,,Du bist so stark."

,,Ich vermisse dich jedes Mal mehr, nachdem wir uns getrennt haben. Der Abstand wird immer schmerzlicher, Geliebter."

,,Ich hasse es auch, dass wir einander immer nur aus der Ferne anhimmeln können, aber es geht nicht anders."

,,Wir sollten jetzt lieber die Zeit nutzen und nicht melancholisch sein, denkst du nicht auch?"

,,Du hast Recht."

,,Ach und ich würde dich niemals allein lassen, Aurelius. Ich halte das alles nur aus, weil ich weiß, dass ich dich wiedersehen werde."

AbstandsliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt