07; Linus

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,,Bist du schon wach?"

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie den regelmäßigen Atemrhythmus nur künstlich hält, oder wirklich noch schläft. Vorsichtig lege ich meinen Zeigefinger auf ihre nackte Schulter und streiche über den Bereich ihres Schlüsselbeines zu ihrem Hals. Ihre Haut wirkt blasser, sobald ich mich ihr nähere, denn von den wenigen Tagen, die sie der Sommersonne begegnet, wird sie lange nicht so braun wie ich es bin, der der Sommersonne stetig hinterher reist. Sie sagte mal, dass sie den Kotrast irgendwie mag und ich muss sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie noch schöner werden könnte, als sie gerade aussieht und mancher sagt der Sonne ja nach, dass sie schöner macht, bei ihr bezweifle ich das arg.

,,Möchtest du mich weiterhin so anstarren, oder darf ich mich bewegen?"

,,Ich genieße die Aussicht gerne noch ein bisschen."

Ein Schmunzeln huscht über ihr Gesicht und dann legen sich ihre Arme um meinen Rücken, wodurch ich zu ihr herüber gezogen werde. Beinahe falle ich ganz auf sie, doch kann mich kurz vorher noch mit den Unterarmen abfangen, die ihren Kopf nun umrahmen. Amelie linst unter meinem linken Armen hindurch, wahrscheinlich blickt sie in Richtung des gedeckten Frühstücktisches, denn sie lacht dann. Das Kribbeln in meinem Körper wird stärker, als sich ihre dunklen Augen genau auf mein Gesicht richten, denn obwohl sie mich schon lange so ansieht, so aufmerksam und fokussiert, bis auf den tiefsten und verstecktesten Platz meiner Seele, habe ich das Gefühl, dass sie jedes Mal neue Seiten an mir erkennt. Sie müsste mich längst in und auswendig kennen, bestimmt sogar gelangweilt werden, aber dies scheint nicht der Fall zu sein, viel mehr wirkt es so, als wäre sie nach jeder neuen Entdeckung begeisterter, auch nach all den Jahren. Nach einigen schweigenden Momenten, in denen meine Augen jede noch so kleine Pore auf ihrer Nase und den Wangen, die honigbraunen Sprenkler in ihren Augen und die kleine Unebenheit in ihrer rosigen Unterlippe abwandern, damit ich mir sicher sein kann, dass alles noch da ist, genau an seinem Platz vom letzten Jahr, atmet das Mädchen hörbar aus. Der Luftzug streift mein Gesicht und eine Gänsehaut wandert über meinen Körper, als wäre sie ein Rennpferd, das möglichst schnell jede Körperstelle berühren müsse.

,,Lass uns aufstehen, wir sollten nicht den ganzen Tag im Bett verbringen, außerdem hast du bestimmt noch einiges geplant. Was hälst du von dieser Idee?"

,,Was glaubst du denn, warum ich dich wecken wollte?"

,,Ach, du wolltest mich wecken? Sag das doch einfach. Ich warte nur auf dich."

Amelie schlägt die Decke zurück, erhebt sich und schaut zu mir über ihre Schulter. Es wirkt so, als würde sie mich ohne Worte fragen wollen, warum ich noch untätig auf der Bettkante sitze und nicht längst neben ihr am Kleiderschrank stehe. Sie dreht sich zurück und öffnet ihre zwei Schubladen, bleibt aber unschlüssig davor stehen. Ihr Kopf bewegt sich zwischen Fenster und Schrank hin und her.

,,Die Sonne meint es heute aber nochmal ausgesprochen gut mit uns und es ist sogar im Vergleich zu gestern nochmal richtig warm geworden. Es wirkt regelrecht so, als würde sich der Sommer uns nochmal seine allerschönsten Seiten zeigen wollen."

,,Ich weiß auch nicht."

,,Dabei würde ich fast behaupten, dass ich beinahe alle Seiten des Sommers schon gesehen habe."

,,Beinahe alle Seiten, welche fehlt dir denn noch?"

,,Nunja, leider verblassen manche Erinnerungen und nur das Gefühl bleibt zurück, wie sich Sonnenlippen auf den eigenen anfühlen. Es war jedes Mal so prickelnd und ich werde nie genug davon bekommen können, besonders nicht, seitdem wir auf Distanz gehen, aber in einem Bett schlafen."

,,Ich versuche unsere Zeit doch schon hinauszuzögern und künstlich noch weiter zu verlängern, aber schau dir die Wiesen an. Sie sind fast nicht mehr grün sondern gelblich, weil ihnen der Regen fehlt."

,,Dann lasse ich es einfach kurz kräftig regnen und schon kann Hektor uns gestohlen bleiben. Der ist doch eh am liebsten an den Polen unterwegs, weil er ein verdammter Einzelgänger ist."

,,Wir können den Lauf der Dinge trotzdem nicht abändern. Je mehr du eingreifst, desto näher kommt er uns. Wir müssen uns fügen, auch wenn es mehr als schmerzhaft ist. Was hälst du davon, wenn wir jetzt in Ruhe frühstücken und dann einen Abstecher auf die Nachbarinsel machen und uns den Wald dort etwas genauer anschauen? Dort soll irgendwo eine Quelle sein, die selbst Hektor nur selten gänzlich einfrieren kann."

,,Das klingt wundervoll, danke für all deine Mühe bei der Organisation."

,,Für dich würde ich alles machen."

AbstandsliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt