,,Pack nicht, du kannst ganz sicher noch ein paar Tage bleiben!"
,,Nein, das kann ich nicht."
,,Bleib noch einen Tag, bitte Linus. Noch einen Tag."
Er hebt seinen Kopf, kommt mit einem ordentlichen Stapel kurzärmliger Hemden auf mich zu und lässt den Stapel neben mich auf das Bett fallen. Mein Blick gleitet über seine markanten Gesichtszüge. Er hat tiefe Augenringe und eine noch blutige Kruste verläuft quer über seine Unterlippe. Bin ich an seiner Verletzung Schuld? Wäre es anders gelaufen, wenn ich gesagt hätte, dass ich nicht wegen einem fürchterlichen Traum aufgewacht bin? Ich kann nicht keine Antwort finden, die mich zufriedenstellen kann. Ich mag es, wenn Dinge klar umrissen werden können, aber ich kann keinen klar Schuldigen ausmachen. Ich kann nichts für den Lauf der Zeit, Linus auch nicht, wir müssen uns fügen, aber kann man der Zeit einen Vorwurf machen, wenn sie doch nur alles im Takt hält? Er hat gegen den tobenden Strum gekämpft, gegen mich sozusagen, und er hat verloren, wie es jedes Jahr passiert, wie es jährlich passieren muss, damit alles seinen gewohnten Gang geht. In seinen Augen haben sich Tränen gesammelt und ich frage mich, ob er mein Gesicht überhaupt schraf sehen kann, so wässrig sind sie, doch mir geht es nicht besser. Ich kann ihn einfach nicht gehen lassen. Gerade wurde es doch erst so schön, die Gedanken an gestern kommen zurück und meine Atmung wird flacher. Linus steht weiterhin untätig vor dem Bett und schaut auf mich herab. Wahrscheinlich ist es für ihn auch schwer, aber was ist schon ein Tag? Das würde niemand bemerken und wir hätten mehr Zeit.
,,Ich kann nicht."
Seine Stimme ist leise, heiser und erstickt, er weint. Ich weine auch, weil ich es nicht ertragen kann, ihn so zu sehen und weil ich ihn jetzt bereits schmerzlichst vermisse. Es scheint mich jedes Mal zu zerreißen, wenn wir uns trennen müssen. Natürlich könnten wir uns öfters als jährlich sehen, aber so versuchen wir möglichst viel Zeit herauszuholen, weshalb wir manchmal fast eine gemeinsame Woche hatten. Das war so unbeschreiblich schön gewesen. Ich würde am liebsten ewig an seiner Seite bleiben, meine Kräfte einfach abgeben und sein werden, doch Fabienne Fons hatte es getan, damit sie bei Hektor bleiben kann, doch durch den Verlust der Kräfte verliert man auch die Unsterblichkeit. Sie war in seinen Armen zu Staub zerfallen, darauf folgte die längste und härteste Eiszeit, zumal Fabiennes Nachfolger Frederik erst erschaffen und dann angelernt werden musste, wobei beinahe ein Fehler bei der Taufe passiert wäre, der verheerende Folgen gehabt hätte, immerhin müssen Vorname und Jahreszeit den gleichen Anfangsbuchstaben aufweisen, hätten sie aber nicht, wenn man ihn statt Frederik Ben getauft hätte. Man konnte das verhindern, ausgerechnet durch Hektors Aufmerksamkeit angesprochen, der sonst wenig bis nichts von sich hören ließ. Ich bedauere es bis heute, dass Linus und ich uns damals nicht schon näher kennengelernt haben, denn wir hatten sozusagen zwangsfrei, was wir nur leider an anderen Stellen der Erde verbrachten. Während er bei den Vulkanen blieb, um nicht zu unterkühlten, bin ich ziellos durch die Gegend gewandelt und habe versucht, Hektor zu beruhigen. Damals war ich unfassbar wütend auf Linus, denn er hätte mir dabei wohl helfen können, doch ich wusste nicht, wie sehr im Kälte zusetzt. Jetzt weiß ich es und es ist kalt geworden draußen. Ich ziehe ihn in meine Arme, will ihm noch nah sein, solange es irgendwie geht, vielleicht kann ich ihn auch wärmen, oder ihm einen Tee machen, damit er die Strapazen länger aushalten kann. Er schlingt seine Arme um mich und presst mich regelrecht an sich. Er hält mich, als habe er Angst davor, dass ich zerfalle, sobald er mich aus seinen Armen entlässt. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber es fühlt sich wirklich jedes Mal so an.
,,Wann geht dein Flug?"
,,Heute Nachmittag um 5 Uhr."
,,Das ist in weniger als 2 Stunden und wir waren als ich angekommen bin, fast eine Stunde unterwegs!"
,,Ich weiß, ich muss mich beeilen."
,,Willst du mich etwa so schnell loswerden?"
,,Ich will dich nie loswerden, aber es war der späteste Flug, der noch freie Plätze hatte. Verzeih mir, bitte."

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Abstandsliebe
Fantastique,,Ich vermisse dich jedes Mal mehr, nachdem wir uns getrennt haben. Der Abstand wird immer schmerzlicher, Geliebter." ,,Ich hasse es auch, dass wir einander immer nur aus der Ferne anhimmeln können, aber es geht nicht anders."