Kapitel 1 - Ivy

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Voller Vorfreude wippe ich auf meinen Füßen hin und her. Verlagere mein Gleichgewicht erst auf die Zehen, dann auf die Fersen und wieder zurück. Das mache ich immer, wenn ich ungeduldig werde.

Der Augenblick, den ich darauf warte, dass die Tür vor mir endlich geöffnet wird, zieht sich mit jedem meiner Atemzüge in die Länge. Es fühlt sich an, als würde ich bereits Minuten davor warten, dabei sind wahrscheinlich erst wenige Sekunden vergangen.

Gerade will ich einen ungeduldigen Blick auf meine Armbanduhr werfen, da passiert es. Die Wohnungstür öffnet sich und mein neues Leben beginnt. Endlich.

Meine Mundwinkel ziehen sich ganz von alleine noch ein Stück höher, dabei bin ich mir beinahe sicher, dass meine Haut Risse bekommen wird, sobald ich noch breiter grinse.

Innerlich mache ich mich darauf gefasst, meinen neuen Mitbewohnern gegenüber zustehen. Auf der Fahrt hier her habe ich mir unser Zusammentreffen so oft vorgestellt, dass ich das Gefühl habe, sie schon zu kennen.

Was lächerlich ist. Ich habe sie schließlich noch nie zuvor gesehen.

Zuerst fallen mir die langen Beine auf, die in dunklen zerrissenen Jeans stecken, das schwarze Shirt zeigt das Logo irgendeiner Band, die ich nicht kenne. Es strahlt allerdings eine derartige Dunkelheit aus, dass ich mir sicher bin, dass ihre Musik so gar nicht meinen Geschmack trifft.

Das Shirt spannt leicht, gerade genug, um zu erahnen, dass sich darunter eine definierte Brust verbirgt.

Meine Augen wandern weiter und mein Lächeln wird schlagartig zögerlicher.

Ich habe mir wirklich viele Varianten und Konstellationen vorgestellt, wie dieses erste Zusammentreffen wohl ablaufen wird. Und meine blühende Fantasie hat alles gegeben, um die unmöglichsten Situationen zu erschaffen, doch in jeder einzelnen, haben meine Mitbewohner gelächelt und mich willkommen geheißen.

Aber in den stahlgrauen Augen, in die ich gerade blicke, liegt nicht der kleinste Funke Freundlichkeit. Genau genommen kann ich überhaupt nichts in ihnen lesen. Vielleicht eine Spur von Überraschung, bei der es sich aber auch genauso gut um das Spiegelbild meiner eigenen Reaktion handeln kann. Dass die Verwunderung mir gerade nahezu ins Gesicht geschrieben ist, ist mir klar.

Das ist mein Fluch und Segen zugleich. Mir hat man schon immer alles direkt im Gesicht ablesen können. Wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb ich zu einer unerschütterlichen Optimisten geworden bin. Wenn man mir schon jede kleinste Gefühlsregung ansehen kann, sollten es wenigstens Positive sein.

Also rücke ich mein Lächeln wieder gerade, strecke meine Hand aus und versuche mich nicht von der undurchdringlichen Miene meines Gegenübers verunsichern zu lassen.

„Hallo! Ich bin Ivy, Ivy Jordan. Ich bin deine neue Mitbewohnerin. Freut mich wirklich sehr dich kennenzulernen."

Meine Hand schwebt zwischen uns, während die Sekunden vergehen und mir die Situation langsam unangenehm wird. Sein stahlgrauer Blick senkt sich auf meine Hand, doch bis auf seine rechte Augenbraue, die sich spöttisch hebt, bewegt sich nichts an seinem Körper. Wie eine Statue steht er da und lässt seine Augen ungeniert Zentimeter für Zentimeter an mir hinauf wandern. Das Bedürfnis die Arme um meine Brust zu schlingen und mich zu bedecken übermannt mich beinahe. Dabei trage ich die hochgeschlossene blaue Blümchen-Bluse, von der Jazmin immer behauptet ich würde darin aussehen, als wäre ich fünf.

„Diese Bitch!"

Seine Stimme ist tief, so unfassbar tief. Ich meine, seine Worte in meinem Brustkorb vibrieren zu spüren.

Wie ist das überhaupt möglich?

Was er da gerade in spöttischem Tonfall gesagt hat, fällt mir erst auf, als er sich mit einem kurzen Auflachen, in dem keinerlei Freude liegt, von mit abwendet.

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