Kapitel 2 - Ivy

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Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ist es weit nach elf Uhr am Morgen, als ich die Augen öffne. Normalerweise wache ich immer schon vor acht auf, egal welcher Wochentag es ist.

Denn entweder poltert Rebecca auf die Toilette, die Jungs im Zimmer über uns springen aus dem Hochbett oder jemand anderes ist schon auf den Fluren unterwegs. Zuhause herrscht immer eine gewisse Grundlautstärke.

Die Stille in meinem Zimmer kommt mir beinahe schon gespenstisch vor. Da mein Zimmer in der WG auf der Innenhofseite liegt, höre ich nicht einmal den Autoverkehr unserer Straße. Es ist herrlich und beängstigend zugleich.

Ich gönne mir einige Minuten, die ich einfach nur daliege und die Stille genieße. Keine Zimmermitbewohnerin, die mich nervt, ich solle endlich aufstehen, kein Gebrüll der Jungs, die mitten in einem Videospiel stecken, kein Streit um das Badezimmer. Doch das bedeutet auch, dass da keine Helen ist, die mit dem Sonntagsfrühstück auf mich wartet und keine Jazmin, mit der ich den Tag auf der Couch verbringe. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich mich an mein neues Leben richtig gewöhnt habe.

Mein erster Blick fällt auf mein Handy, das ich gestern Abend neben meinem Bett an die Steckdose angeschlossen habe. Landen hat mir bereits eine Nachricht hinterlassen, dass ich ihn jederzeit anrufen kann, sobald ich Zeit habe und wach bin. Mein Bruder ist morgens noch früher unterwegs, die Nachricht hat er schon um sieben geschrieben und ich vermute, dass er dabei gerade seine morgendliche Laufrunde beendet hat.

Eigentlich ist meine erste Tat am Morgen immer, die Kaffeemaschine anzustellen. Ohne meinen ersten Kaffee bin ich nur ein halber Mensch, doch es ist schon nach halb zwölf und Landen wird bestimmt schon ungeduldig.

Deshalb wähle ich rasch seine Nummer. Es klingelt nur zwei Mal, bis er den Anruf auch schon entgegennimmt.

„Ivy! Ich dachte, du hättest keine vierzwanzig Stunden gebraucht, um deinen alten Bruder zu vergessen."

In meiner Brust wird es warm. Seit Landens Auszug aus dem Heim vermisse ich ihn ständig. Früher haben wir immer aufeinander geklebt, sind ein Team gewesen und das, obwohl er sieben Jahre älter ist, als ich.

Manchmal ist es nicht so einfach gewesen, mit seinem ausgeprägten Beschützerinstinkt klar zu kommen. Doch zu meinem Glück ist er schon längst aus dem Heim ausgezogen und nach Philadelphia gegangen, als Becca und ich die ersten Partys unsicher gemacht haben. Hätte er mich in ihren kurzen Röcken das Haus verlassen sehen, hätte er mich höchstwahrscheinlich an den Haaren direkt wieder zurückgezerrt und mich bis ins Rentenalter in meinem Zimmer eingeschlossen.

„Als könnte man dich je vergessen, alter Mann.", antworte ich.

Landens vertrautes Lachen lässt mich grinsen

„Hattest du gestern Abend Spaß? Haben sich deine Mitbewohner benommen?"

Natürlich sind das die ersten Fragen, die er hat. Vielleicht hätte ich zuerst Jazmin anrufen sollen, das Erste, was sie hätte wissen wollen wäre wohl eher in die Richtung Auf einer Skala von 1 bis 10, wie heiß sind die beiden? gegangen.

„Ja und ja. Ich hatte ziemlich viel Spaß und Adam und Rick sind wirklich super nett. Mach dir nicht so viele Gedanken Landen! Die beiden sind schwer in Ordnung, außerdem bin ich im Verlauf der letzten sechzehn Jahren mit ganz anderen Typen fertig gewooooorden."

Meinen Vortrag beende ich nicht gerade überzeugend mit einem lauten und langen Gähnen. Das ist die Strafe dafür, dass ich nicht doch zuerst einen Abstecher bei der Kaffeemaschine eingelegt habe.

„Bist du etwa gerade erst aufgestanden? Das Studentenleben hat dich ja schon ziemlich schnell im Griff."

Wieder schallt Landens dunkles Lachen durch die Leitung. Wenigstens scheint ihn das von seinem Unbehagen abgelenkt zu haben, dass ich mit zwei Männern eine Wohnung teile. Auf diese Diskussion habe ich nicht schon wieder Lust.

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