Ihr erleichterter Seufzer wirbelte alten Staub auf, als sie auf die Straße zurückspähte, um zu sehen, ob der grimmige junge Mann ihr noch immer folgte.
Er war erschreckend gewesen, wie er so aus der Verwirrung aufgefahren war und sie angebrüllt hatte. Das Herz schlug ihr noch immer bis zum Hals und verengte ihre Kehle. Sicher würde er ihr etwas böses tun, wenn er sie zu fassen bekam. Denn schließlich waren alle Erwachsenen böse, so hatte sie es bereits gelernt. Böse und alt und grimmig. So wie dieser junge Mann, dessen Beutel sie sich an die Brust presste. Das war er also, der Verdächtige, von dem alle sprachen. Gestern hatte sie ihn nicht richtig erkannt, als sie ihm das Geld abgenommen hatte, aber nun kannte sie sein Gesicht. Sie hatte ihn noch einmal sehen müssen, in der simplen Hoffnung, es würde den Schmerz in ihrer Brust lindern. Aber das hatte es nicht. Denn der Mann hatte nicht wie ein Mörder ausgesehen, kein verrücktes Lachen, keine blutgetränkten Hände, kein bekanntes Gesicht und was Mina sich sonst noch alles in ihrer Fantasie ausgedacht hatte. Er war ein ganz normaler, vier etwas müde aussehender Mann.
Als sie ihn schließlich auf der vollen Straße ausmachte, hatte er sich jedoch bereits abgewandt und ging wieder davon. Die Blicke der Leute folgten ihm und missgünstiges Geflüster wurde zwischen fremden Mündern ausgetauscht. Mina stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus und wartete noch ein paar Minuten in der staubigen Ecke unter der Treppe zum ersten Stock einer Insulae. Spinnenweben hatten sich in ihrem Haar gefangen, aber das kleine Mädchen störte sich nicht daran. Sie hatte früh aufgehört vor Spinnen angst zu haben, denn die wahren Gefahren waren nicht so klein, dass man sie einfach fortpusten konnte.
Als es sicher war, kletterte sie aus ihrem Versteck heraus und lief von dem Laden fort hinunter zum Hafen. Ohne so richtig zu wissen, wo sie hingehen sollte, denn heim konnte sie nicht. Niemand erwartete sie noch dort, also war es nicht nötig den Weg zurückzufinden. Halb schlitternd, halb rennend rutschte sie über die glatten Steine des südlichen Stadttors, vorbei an der Therme und auf dem Weg zu den Anlegeplätzen. Die Sonne war warm auf ihrer Haut als sie zwischen Kisten und Seesäcken, Reisegepäck und Fischen in wassergefüllten Boxen hindurch schlüpfte. Sie wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase und schniefte dann. Immerhin hatte sie das Geld des wütenden Mannes und wie es sich anfühlte, war das nicht allzu wenig. Aber Hunger hatte sie nicht. Auch keinen Durst. Eigentlich fühlte sie momentan gar kein Bedürfnis. Sie war nur müde. Unglaublich müde, nachdem sie die letzte Nacht zwischen Ratten und Essenresten in einer feuchten Straßenecke, nahe ihres alten Zuhauses verbracht hatte. Frierend und sich auch ein bisschen fürchtend, hatte sie kaum an Schlaf denken können. Erst als sie mit dem Rücken an die Mauer gepresst vor Müdigkeit in Ohnmacht fiel war sie zu Ruhe gekommen.
Mina setzte sich an den Hafenkai und ließ die Beine über dem milden Wasser baumeln. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie fühlte sich verloren und einsam in dieser großen Stadt in ihrem Rücken. Alles schrie danach, dass Julia nicht mehr da war. Minas ältere Schwester. Oder wenigstens diejenige, die dem am nächsten kam. Diejenige, die sie aufgezogen hatte, mit ihr gelacht und die sie beschützt hatte. Die als einzige mit Mina geredet hatte und sich um sie gekümmert hatte. Denn Eltern hatte Mina keine. Ihre Erinnerungen begannen in dieser Stadtvilla am Meer, mit dem herrlichen Garten und dem großen Balkon den sie und die anderen Sklaven nicht betreten durften. Es gab einfach kein davor. Es gab keine Mutter und keinen Vater, es gab nur Mina. Vielleicht, so hatte sie schon manchmal gedacht, war sie einfach dem Staub am Boden entstiegen oder dem hellen Sonnenlicht. Denn ihre ältere Schwester war in ihrer frühesten Erinnerung ja selbst noch ein Kind. Kaum älter als dreizehn Jahre, aber fest entschlossen das kleine Mädchen namens Mina zu füttern, zu umsorgen und immerzu mit sich mitzuschleppen, wenn sie Wasser für die Herren holte, Feuerholz entzündete um den Herd zu heizen oder den Boden zu fegen.
DU LIEST GERADE
Römisches Blut
Historical Fiction45 n. Chr. Pompeji Der junge Stoffhändler Aries lebt ein eher bescheidenes Leben in dem er sich von Monat zu Monat über Wasser hält, als plötzlich unweit der Vorstadttherme ein Mord geschieht. Kurz darauf scheint nichts mehr so zu sein wie zuvor, wä...