einundzwanzig

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⚠️ TW: mentions of past death, past rape, panic attack⚠️

Jungkook warf einen nervösen Seitenblick auf Taehyung, der Ältere lief neben ihm her, führte ihn durch die Straßen des Viertels, in dem Jungkook sich nicht auskannte. Er starrte die halb verfallenen Fassaden der kleinen Häuschen befremdlich an, eine Gänsehaut krabbelte seine Arme hoch. Taehyung passte hier nicht hin. Punkt. Jungkook wollte ihn nicht in so einer Gegend. Ob er schon immer hier wohnte? Oder ob die finanziellen Verhältnisse mal besser waren? Was war mit seinen Eltern? Jungkook wusste so gut wie nichts über den Älteren. Und er fragte auch nicht nach, er wusste, dass Taehyung nicht darüber sprechen wollte.

Jungkook begann auf seiner Unterlippe herum zu nagen, Taehyungs Miene verriet nichts über seine Gefühle. Er sah angespannt aus, aber mehr war da nicht. Sachte nahm er Taehyungs Hand in seine, strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Taehyung reagierte zuerst nicht, zeigte ihm schließlich aber doch mit einem zaghaften Druck seiner Hand seine Wertschätzung. Sonst war der Weg still, Taehyung sagte nichts und Jungkook war sich ziemlich sicher, dass der Ältere nicht reden wollte.

Etwas unwohl sah er zu Taehyung rüber, als sie geradewegs auf einen Friedhof zusteuerten. Dieser hatte die Lippen fest zusammengepresst, zeigte keine Regung. Jungkook lief ein Stückchen näher an Taehyung heran, ihre Schultern berührten sich beim Laufen. Jungkook konnte sich nicht vorstellen, warum Taehyung ihn auf einen Friedhof führte, bis sie vor einem Grab stehen blieben.

Kim Ahri

Sie war vor neun Jahren gestorben. Mit einem Alter von vierunddreißig Jahren. Vor neun Jahren war Taehyung vierzehn.

Taehyungs Hand zitterte in Jungkooks. Taehyungs ganzer Körper zitterte. In seinen Augen glänzten Tränen. Jungkooks Stirn runzelte sich besorgt, seine Mundwinkel zuckten nach unten.

Taehyung atmete tief ein und aus, bevor er anfing zu sprechen. "Meine Mum hat als Prostituierte gearbeitet. Sie wurde in diesem Viertel geboren. Als sie alt genug war, wurde sie von meinen Großeltern auf den Strich geschickt, damit sie Geld nach Hause brachte. Du kommst hier nicht raus. Sie hat mir nie erzählt wie alt sie war, als sie angefangen hat. Ich hab auch nicht gefragt. Mir war bewusst, was sie tat, der Grund, warum ich bis abends allein zu Hause gesessen habe. Eigentlich sollte es mich nicht geben.", Jungkook verschluckte sich fast an seinem Atem, "Sie wurde vergewaltigt. Das passiert hier oft, i-ich wurde auch schon ein paar Mal vergewaltigt. Wenn sie einfach abhauen, ohne dir das Geld zu geben. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was mit den Vergewaltigungsbabys hier passiert. Für Abtreibungen hat hier niemand Geld. D-die Babys werden direkt nach der Geburt umgebracht. Erstickt. Aber ich nicht. Sie hat mich behalten, hat mich geliebt. Ich hätte mich gehasst...ich hasse mich. Ich hab sie geliebt, über alles", Taehyung konnte nicht mehr normal sprechen, heulte die Worte raus, "sie hat sich so gut um mich gekümmert, hat nur an mich gedacht, kam immer später nach Hause, selbst im Winter, bis ihre Lippen blau gefroren waren. S-sie hat sich 'ne Lungenentzündung geholt und ist daran gestorben. Ich konnte ihr nicht helfen, ich konnte nichts tun. Konnte sie nur in meinen Armen halten", er sank in die Knie, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Jungkook ließ sich neben ihn fallen, umschlang den zitternden und bebenden Mann fest. "Ich war vierzehn als sie gestorben ist. Ich hab mit vierzehn angefangen mich zu prostituieren. Und ich hätte alles dafür getan, an ihrer Stelle zu sterben."

Jungkook drückte Taehyung noch fester an sich, Taehyung heulte hemmungslos in seine Halsbeuge. Auch Jungkook liefen Tränen über die Wangen. Er konnte nichts sagen, konnte Taehyung nicht beruhigen, die Worte kamen nicht aus seinem Mund raus, blieben immer wieder in seinem Hals stecken. Er war überwältigt. Die Information brannte auf seinem gesamten Körper.

Er wusste nicht, was er tun sollte.
Jungkook war achtzehn Jahre alt, hatte noch nie irgendwas schlimmes in seinem Leben erlebt. Musste sich noch nie um sein Wohlbefinden sorgen, um sein Überleben.
Er wusste nichts.

𝐀𝐑𝐓 𝐃𝐄𝐂𝐎 | jjk.kth ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt