49. Kapitel

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„Amin.", beende ich mein Gebet und streiche meine Handinnenflächen gleichzeitig über mein Gesicht.

Kurz richte ich mein leicht verrutschtes schwarzes Kopftuch. Dabei huschen meine Augen über die Schrift, die im Grabstein eingraviert ist. 13.06.2020.

Schon seit über vier Monaten liegt ihr zierlicher kleiner Körper unter dieser kalten Erde. Schon seit vier Monaten muss ich ohne sie leben. Es ist schon vier Monate her und immer noch blutet mein Herz. Ich vermisse sie. Ihr herzerwärmendes Lächeln. Ihren süßlichen Duft. Ihre Stärke, die sich unmittelbar auf mich übertragen hat und mich automatisch gestärkt hat. Sie war lange Zeit meine Patientin und hat mir vieles gezeigt mit ihren neun Jahren. Sie hat mir gelehrt niemals aufzugeben. Immer weiter zu kämpfen und nie die Hoffnung zu verlieren. Doch jetzt, wo sie nicht mehr da ist, habe ich das Gefühl, dass ich es nicht mehr schaffe zu kämpfen. Ich fühle mich schwach und ohne Rückhalt. Ohne ihren Rückhalt.

Genau wo ich dachte, dass ich diesen von nun an von Ömer bekomme und wieder dort weitermachen kann, wo ich aufgehört habe, bin ich gescheitert. Es erscheint mir alles so surreal, wenn ich vor ihrem Grab stehe und gleichzeitig an Ömer denke. Beide Personen habe ich verloren. Sofia musste mich verlassen, wohingegen Ömer es verhindern konnte. Doch er hat es nicht. Er hat mich gehen lassen. Und das freiwillig mehr oder weniger. Sofia war gezwungen, da es nicht in ihrer Macht stand zu bleiben.

Ich hätte sie einfach so gerne bei mir und das als meine kleine Schwester. Leider ist das nicht mehr möglich...

Auch Ömer hätte ich jetzt gerne bei mir aber auch bei ihm scheint dieses Bedürfnis unmöglich zu stillen aus...

„ich vermisse sie einfach so sehr, Papa!", lasse ich ihn traurig wissen und platziere die vielen Blumensträuße ordentlicher auf ihrem Grab.

Dabei tröpfeln unzählige Tränen auf ihre Erde und hinterlassen eine leicht dunkle Spur auf der ursprünglich trockenen braunen Erde. Mein Vater und ich legen ganz viel Wert drauf ihr Grab so schön gepflegt mit vielen Blumen zu hinterlassen. Zu unserem Glück fehlt es an ihrem Grab auch nie an schönen Blumen. Das zeigt, dass meine Schwester nicht nur mich und meinen Vater hier zurückgelassen hat sondern viele andere Menschen, die sie gern haben. Sie hat zum Glück viele Menschen, die sie hier nicht alleine lassen und sie so oft wie sie nur können besuchen kommen und mit ihr kommunizieren. Diese Tatsache beruhigt mich.

„ich auch mein Kind....ich auch!", mein Vater legt ein Arm auf meine Schulter und seine andere Hand platziert er auf die Erde. Kurz streicht er behutsam drüber und zittert leicht. Sofort umfasse ich seine Hand mit meiner.

„wenn sie gewusst hätte, dass ihr beiden Geschwister seid, so würde ihr die ganze Welt gehören. Eines Tages hat sie mich sogar mal gefragt, ob sie dich abla (große Schwester) nennen darf und nicht Frau Doktor. Sie hat scheinbar vorher schon gespürt, dass ihr wirklich Geschwister seid und zwischen euch eine besondere Beziehung bestand.", kurz lächelt er unter seinen Tränen ehe er sie sich mit seinem Arm wegwischt.

„wie gerne ich dieses Wort aus ihrem Mund gehört hätte..wenn ich gewusst hätte, dass sie meine Schwester ist, wäre ich ihr niemals von der Seite gewichen. Ich hätte alles dafür getan!", direkt kommen meine Schuldgefühle hoch und betrüben mich mehr als eh schon.

„ich weiß sahram aber es sollte scheinbar so sein. Sie ist leider nicht mehr bei uns aber sie leidet mit Sicherheit nicht mehr wie sie es hier getan hat. Sie hat Erlösung bekommen. Inşallah begegnen wir uns alle im Jenseits und können dort glücklich und zusammen weiterleben."

„das ist auch der einzige Gedanke, der mich nicht durchdrehen lässt. Ich bin mir auch ganz sicher, dass es ihr jetzt bei Allah viel besser geht als hier unter den ganzen Schmerzen und kämpfen. Ich hoffe es so sehr Papa...", mein Papa drückt mich sofort an sich und gibt mir Kraft.

ÖMRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt