16

60 10 0
                                    

„Warum hast du mich nicht zurückgerufen?" Mama wirkt ernsthaft verletzt und empört. Mein schlechtes Gewissen frisst mich von innen auf. Ich wusste, dass ich sie verletzt habe. „Du hast gestern kein Wort mit mir geredet. Stattdessen hast du ein paar Sachen gepackt und bist gegangen", ihre Stimme ist nicht laut, aber voller Traurigkeit. Und die schreit lauter, als alles andere. „Was ist los mit dir?" Fragt sie eindringlich. Ich starre auf den Tisch, es riecht nach Plätzchen, ganz leise spielt Weihnachtsmusik. „Es kommt nicht wieder vor Mama, versprochen." Ich will meinen Blick nicht heben, will sie nicht ansehen. Dylan wartet vor der Tür, will das ich noch einmal bei ihm schlafe.

„Du bist alt genug um zu wissen, was du tust, July. Aber lass mich nicht einfach im Regen stehen." Ihre Worte schmecken bitter. Ich fühle mich nicht alt genug um zu wissen, was ich tue. Um ehrlich zu sein weiß ich gerade nicht ein mal, was ich tue, warum ich alle um mich herum verletzte. Niemand hat das verdient. Nicht Miri und erst recht nicht Mama. „Werde ich nicht mehr", verspreche ich. „Gut", sie nickt verstehend und lächelt mir aufmunternd zu. „Du schläfst wieder bei Dylan?" Will sie wissen. Sie sieht fragend auf die kleine Tasche neben mir, die ich noch gepackt habe bevor wir geredet haben. Ich nicke. „Es freut mich dass du ihn hast. Er ist ein toller junger Mann", ihr Lächeln und ihre Freude für mich sind aufrichtig. Ich wünschte nur, ich könnte diese Freude auch fühlen.

Ich verabschiede mich von ihr und gehe wieder nach draußen. Es ist bereits dunkel. Nur das Licht von Dylans Wagen und ein paar Laternen geben mir Licht. Der Geruch von Plätzchen und die Wärme verschwinden augenblicklich. Ich schaue zu Dylan, der mit Grey an seinem Auto steht. Sie unterhalten sich. „Hey", begrüße ich meinen Bruder lächelnd. Er mustert mich mit gerunzelter Stirn. Ich werfe meine Tasche und mein Unizeug auf die Rückbank. „Mama hat sich Sorgen gemacht", murmelt er und sieht mich abschätzend an. „Ich weiß", antworte ich und versuche, dass Gefühl des scharfen Messers in meiner Brust zu ignorieren. „July was ist los mit dir?" Will er wissen. Verständnislos sehe ich ihn an. Mein Blick huscht zu Dylan, der mich ungeduldig ansieht. Das Fenster hat er unten, er hört jedes Wort, dass Grey und ich sprechen. „Steig ein", fordert er, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Er reibt sich abwartend das Kinn.

„Jules irgendetwas stimmt doch nicht", Grey geht einen Schritt auf mich zu. „Warum redest du mit niemandem?" „Steig ein, verdammt nochmal!" Unentschlossen sehe ich zwischen den beiden hin und her. Warum werde ich immer zwischen die Menschen geworfen sodass sich jeder um mich reißen kann? Ich kann damit nicht umgehen. Deshalb steige ich ohne ein weiteres Wort in Dylans Auto. Grey sieht mich verwirrt und verärgert an. Ich hasse es, ihn einfach stehenzulassen, aber ich habe keine andere Wahl. Sobald die Tür zufällt, drückt er aufs Gas. Wir rutschen kurz, wegen der glatten Straße, dann sehe ich Grey nur noch im Rückspiegel verschwinden.

Die Fahrt über ist es still. Wir reden kein Wort miteinander, mir ist auch nicht nach reden. Viel lieber würde ich jetzt in der Stille verschwinden und nie wieder auftauchen. Ich verletzte jeden Menschen, ich bin ein schrecklicher Mensch. Wie grausam muss es für sie alle sein. Sie machen sich Sorgen und ich stoße sie weg. Nie wird jemand sehen, dass ich das nur tue, damit niemand anderes verletzt wird, damit sich niemand Sorgen machen muss. Stattdessen bewirke ich das Gegenteil. Ich bin nicht gut darin, ich bin in nichts gut. Nicht gut genug für meine Freunde, meine Familie, nicht gut genug für Dylan. Für niemanden und diese Erkenntnis schlägt mir mit voller Wucht und erbarmungslos ins Gesicht.

Die Lichter ziehen an uns vorbei, während sich kleine Tränen aus meinen Wangen stehlen. Mein Blick ist fest aus dem Fenster, ich will nicht das Dylan meine Tränen sieht, er würde sie sowieso nicht verstehen. Er versteht nichts von all dem.

Er schließt die Tür zu seiner Wohnung auf. Hier riecht es nicht nach Plätzchen oder Zuhause. Es ist warm, aber ein anderes warm als das bei mir zu Hause. Das klirren, als die Schlüssel in die Schalle fallen unterbricht die Stille in der Wohnung. Ich stelle meine Taschen neben der Tür ab und folge ihm in die Küche. „Deine Familie spinnt doch", beginnt er zu fluchen. Er steht mit dem Rücken zu mir, weil er zwei Gläser und die Flasche Scotch aus dem Schrank holt. Normalerweise trinke ich nicht unter der Woche, wenn ich Vorlesungen habe und arbeiten muss, aber heute kann ich es sehr gut vertragen. „Als würde es dir schlecht gehen. Ich wäre der Erste, der das sehen würde, oder etwa nicht?" Fragt er und hält die Gläser nach oben. Natürlich nicke ich, ich will keinen Streit. „Ich finde du solltest Zuhause ausziehen. Mal erwachsen werden." Ich beobachte ihn dabei, wie er die Gläser mit der braunen Flüssigkeit füllt und mir ein Glas gibt. „Ich werde noch nicht ausziehen. Dafür habe ich nicht das Geld", antworte ich schlicht. Das Studium und der kleine Nebenjob sind nicht genug um überleben zu können. Ich bin froh, die Möglichkeit noch zu haben, zu Hause zu wohnen. So kann ich mich auf mein Studium konzentrieren und ein bisschen nebenbei verdienen und sparen, damit ich genug Rücklagen habe wenn ich ausziehe.

Dylan lacht auf, als würde er mich nicht ernst nehmen. „Dann schmeiß das Studium und such dir einen richtigen Job. Du bist alt genug, Jules." Er sagt es, als wäre das meine einzige Lösung. Ich schüttle den Kopf. „Das Studium ist mir wichtig. Arbeiten werde ich in meinem Leben noch genug." Das ist ja nicht ein mal gelogen. „Für was brauchst du das Studium? Später bist du doch eh Zuhause bei unseren Kindern. Das Geld zu beschaffen ist mein Job." Er stellt das Glas auf der Anrichte ab und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. So weit war ich in meiner Planung noch nicht. Offensichtlich erwartet er eine Antwort von mir. Ich trinke das Glas leer, dessen Inhalt in meinem Hals brennt. „Stell dir vor, was für wunderschöne Kinder wir mal haben", raunt er und streift mit seiner Hand meine Wange entlang. „Sie werden alle so wunderschön, so schlau und so perfekt wie du sein", fügt er hinzu.

Schmunzelnd sehe ich zu ihm hoch. Seine Lippen deuten ein kleines Lächeln an. „Wäre das nicht schön?"

„Irgendwie schon", gebe ich ehrlich zu. Es ist süß, dass er schon so weit in die Zukunft sieht und sich die Dinge vorstellt. Vielleicht wäre dieses Leben schön. Und ganz sicher wäre es wunderbar, wenn wir darauf aufbauen können.

JULYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt