Als ich am nächsten Morgen wach werde, habe ich fast schon wieder vergessen was letzte Nacht war. Graues Licht scheint durch das Fenster gegenüber von meinem Bett. Dicke Wolken hängen vom Himmel wie traurige Zuckerwatte. Mein Blick wandert zur Seite, zu Dylan der noch immer seinen Rausch ausschläft. Ich blinzle ein paar Mal und reibe mir über die müden Augen, ehe ich vorsichtig die Decke wegschlage und aus meinem Bett steige. Es ist kühl außerhalb der warmen Decke. Feine Gänsehaut zieht sich über meine Arme. Die Tatsache, dass Dylan hier ist, ist immer noch ungewohnt für mich.
Bevor ich nach unten gehe um mit meiner Familie zu Frühstücken, ziehe ich mir ein dickes Paar Socken und den kuscheligen Cardigan an, den Mama mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Das Altrosa ist mittlerweile schon verwaschen. Weil ich nichts anderes da habe, stelle ich Dylan meinen Zahnputzbecher mit Wasser gefüllt hin und lege eine Schmerztablette daneben. Er wird nicht herunterkommen, sondern direkt wieder verschwinden, sobald er wach ist.
Wenn er weg ist, werde ich mein Zimmer lüften müssen. Es stinkt furchtbar nach Alkohol.
Schon im Flur höre ich Geschirr klappern und meine Mutter reden. Sie lacht, ehe sie sich offensichtlich mit einem meiner Brüder unterhält. "Geh und wecke bitte deine Schwester." Bevor aber jemand reagieren kann, komme ich die Treppen nach unten und wische mir schläfrig über die Augen. "Bin schon da", murmle ich und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Grey sitzt schon auf seinem Platz neben mir. Er hat den Teller schon voll mit Mamas Rührei und ein Brötchen in der Hand. Kauend schaut er zu mir rüber, die Stirn in Falten gelegt. Das Piercing an seiner Augenbraue bewegt sich als er die Augenbrauen zusammen zieht. "Wie hast du geschlafen?" Will Mama wissen, die neben Papa Platz nimmt. Der liest in seiner Zeitung, unbeeindruckt von dem Geschehen am Tisch.
Wir sind wahrscheinlich die spießigste Familie der gesamten Nachbarschaft.
"Gut", antworte ich ihr und greife nach den Brötchen, die in dem Flechtkorb liegen, den wir noch von Oma haben. Mama liebt diesen Korb. "Was macht ihr heute?" Sie hat die Frage offensichtlich uns allen gestellt, aber Grey ist so auf sein Essen fixiert, dass er das wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen hat. "Ich werde noch für die Uni lernen", James zuckt mit den Schultern und beißt von seinem Brot ab. Nickend sehe ich zu ihm und dann zu Grey. Er schaut zu Mama, zuckt mit den Schultern und isst weiter. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Ich muss gleich ins Café und Jasmin aushelfen." Mama nickt zufrieden und wendet sich Papa zu.
Innerlich bete ich, dass Dylan schon weg ist bevor ich wieder nach oben gehe. Ihn letzte Nacht wieder so betrunken zu sehen, schon wieder mit einer anderen Frau sollte mich eigentlich wütend machen. Doch stattdessen ist es mir egal. Sie ist ihm nicht genug. Keine von seinen Bekanntschaften ist ihm je genug. Ich bin die Einzige, die Dylan auf lange Sicht wirklich glücklich machen kann. Und das werde ich allen immer voraus haben.
Den Blick aus dem Fenster der Küche gerichtet beobachte ich die dicken Schneeflocken, die auf die Erde fallen und esse mein Brot. Draußen ist seit Tagen alles weiß, unser Garten sieht absolut unberührt aus. Alles ist in eine weiße, wunderschöne Decke getaucht.
Nach dem Frühstück helfe ich Mama noch dabei die das Geschirr und den Rest wegzuräumen. Mir bleibt nicht mehr lange Zeit, bis ich ins Café muss und früher oder später werde ich nach oben gehen müssen um zu duschen. Schweigend schließe ich die Kühlschranktür und sehe Mama dabei zu, wie sie den Tisch abwischt und die Vase mit der Sonnenblume wieder hinstellt.
Konzentriert starre ich die Uhr über der Küchentür an, verfolge den großen Zeiger, wie er seine Runde dreht. Seufzend reibe ich mir über die Schläfe. Es bringt nichts, das ganze noch länger hinauszuzögern. Mir ist nicht einmal bewusst wovor ich genau Angst habe. Vermutlich will ich Dylan gerade einfach nicht sehen, weil ich weiß, dass er einen Kater haben wird und weil ich weiß, dass er die letzte Nacht mit einer anderen Frau verbracht hat.
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JULY
General Fiction// Spin off zu GREY! // Ich war eine Marionette, hing an den Fäden in deiner Hand, bis du sie durchgeschnitten hast. Deine Hand, sie war ein Ort, warm und voller Sicherheit bis sie dir ausgerutscht ist. Und trotzdem hing ich an den Fäden, mit alle...