Wie man seine Zukunft gesagt bekommt

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Ich bin das Letzte, das auf dieser Welt existieren sollte. Eine Abscheulichkeit. Etwas Abnormales. Seit ich mich erinnern kann, werde ich von anderen gemieden. Anfangs dachte ich, es täte daran liegen, weil ich etwas Falsches getan habe, doch mit den Jahren wurde mir bewusst, das es nichts ist, was ich getan habe, sondern eher das, als was ich geboren worden bin. Selbst jetzt höre ich die Tuscheleien der anderen Dorfbewohner.
Tuscheleien
»Da ist sie.«
     »Rote Hexe.«
     Es schmerzt, zu hören, was sie alle über mich denken. Selbst jetzt nach all den Jahren krampft sich mein Herz schmerzhaft zusammen, doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich straffe meine Schultern, recke mein Kinn und überquere die von Moos bedeckte Brücke. Erst nachdem ich auf der anderen Seite bin, kann ich wieder beruhigt aufatmen. Ich hasse, es durch Kyrae zu laufen, und manchmal hasse ich sogar meine Mutter dafür, dass sie mich wöchentlich zu Lady Asterin schickt.
     »Lady Asterin?« Ich schiebe den Vorhang, der aus dünnen Fäden mit glänzenden bunten Perlen besteht, beiseite und übertrete die Türschwelle. Der klirrende Klang der Perlen kündigt meine Anwesenheit an, doch von Asterin fehlt jede Spur. Habe ich sie etwa verpasst?
     Seufzend schaue ich mich in der Hütte um, die eindeutig bessere Tage erlebt hatte. Unzählige Kräuter, Kleidungsfetzen und Tiergliedmaßen, die in einem Wasser getränkten Glas schwimmen, liegen im Raum verteilt, sodass ich nicht sagen kann, wo der bestickte Teppich auf dem Holzboden anfängt und wo er endet.
     »Wie oft muss ich euch noch sagen, das ihr mich so nicht nennen sollt, Kindchen.« Hastig springen meine Augen von einem Punkt zum nächsten Punkt im Raum, bis ich in der hintersten Ecke Asterin entdecke.
     »Bis ihr mich nicht mehr Kindchen nennt.« Ich höre die Kräuter unter meiner Sohle knacksen, als ich den Raum durchquere und quietschend den Stuhl zu mir heranziehe, um mich gegenüber von Asterin fallen zu lassen. Hochkonzentriert zermahlt sie einige Kräuter in einem Mörser, ohne mir weiter Beachtung zu schenken. Viele der anderen Dorfbewohnern würden sich wahrscheinlich über ihr Verhalten lautstark beschweren, doch für mich sind diese kurze Momente mit Asterin Balsam für meine Seele. Keine Sticheleien. Keine Verspottungen. Ich stehe nicht im Mittelpunkt, denn in dieser Hütte geht es immer nur um sie.
     »Wie lautet euer Begehren?« Das fragt sie mich immer und ich gebe ihr immer die gleiche Antwort: »Ich möchte die Kräuter für meine Mutter abholen.«
     Asterin unterbricht ihre Tätigkeit und hebt ihren Kopf. Ihre leuchtend gelben Augen fixieren mich und lassen mich leicht ins Schwitzen geraten. Normalerweise fürchte ich mich nicht vor dieser Frau, doch heute ist es anders. Das dämmernde Licht, das von der kleinen Kerze auf dem Tisch ausgeht, zeigt sehr deutlich die weißen Bemalungen auf ihrer Haut, die die Struktur ihrer Knochen aufzeigen.
     »Eigenartig.« Asterin schiebt den Mörser von sich weg, stützt ihren Ellenbogen auf dem Tisch ab und bettet ihr Kinn in ihr Handgelenk, während sie mich weiterhin mustert.
»Wie?« Ich blinzle mehrmals und versuche das Zittern meiner Hände, die ich in meinem Schoß zusammengefaltet habe zu kontrollieren.
Bloß keine Panik. Das ist Asterin. Sie ist deine Freundin, versuche ich mich zu beruhigen.
     »Du stellst mir nie eine Frage, obwohl du genau weißt, das ich die Antworten kenne.«
     Ich nicke. »Ich habe nun mal keine Fragen.«
     Asterin schüttelt ihren Kopf. »Das ist es ja. Du hast so viele Fragen. Wer du bist, woher du kommst, wer deine Eltern waren und wie du hier gelandet bist, doch du stellst sie nicht. Warum?«
     Mechanisch wandert mein Blick auf meine Hände. Natürlich weiß ich, das Asterin als Seherin des Dorfes alle Antworten auf meine Fragen kennt, doch warum habe ich sie in den letzten zehn Jahren nie danach gefragt? Liegt es daran, dass ich ihre Freundlichkeit mir gegenüber nicht aufs Spiel setzen wollte oder eher daran, das ich mich vor den Antworten nicht fürchte?
     »Ich- ... ich weiß es nicht.« Meine Stimme bebt und klingt nicht mehr nach mir selbst.
     Asterins Mundwinkel zucken nach oben. »Ich verstehe.« Mit ihrer linken Hand greift sie über den Tisch nach meiner Hand, zieht sie jedoch sofort wieder weg, als hätte sie sich fürchterlich verbrannt. Ihre gelben Augen werden größer und auch ihre Atmung beschleunigt sich, soweit ich das aus dieser Entfernung richtig deuten kann.
     »Ich hole die Kräuter«, erklärt sie sich und steht so schnell auf, sodass ihr Stuhl nach hinten kippt und polternd zu Boden fällt. Ich zucke beim Klang des fallenden Stuhls zusammen und drehe mich halb zu der Seherin um. Fluchtartig huscht sie von einem Regal zum nächsten.
     »Stimmt etwas nicht?«
     Keine Antwort.
     Vorsichtig schiebe ich den Stuhl zurück und gehe langsam auf Lady Asterin zu. Unsicher berühre ich sie an ihren Arm. Wie ein schreckhaftes Reh zuckt die Seherin zusammen und drückt mir die Kräuter in die Hand.
     »Ihr solltet jetzt gehen.«
     Ich beiße mir auf die Unterlippe. So hat sie noch nie mit mir gesprochen. Hat sie etwa ...? »Habt ihr etwas gesehen?« Statt einer Antwort starrt sie auf den Boden und schweigt eisern.
     »Seherin, bitte.« Ich greife nach ihrem Handgelenk und drücke sanft zu. Asterin schluckt, ehe sie ihren Kopf hebt und mir wieder in die Augen schaut.
     »Kindchen.« Sie legt ihre Hand auf meine Wange und streichelt sanft mit ihrem Daumen über meine Haut. »Du strahlst heller als jedes andere Wesen, dem ich im letzten Jahrhundert jemals begegnet bin.«
     »Aber?« Ich höre ganz deutlich heraus, das es ein aber gibt. Anders kann ich mir ihre Reaktion einfach nicht erklären.
     »Aber ...« Asterin lässt ihre Hand sinken. »... in dir befindet sich eine Dunkelheit, zwar kaum größer als die Flamme einer Kerze, aber dennoch so gefährlich, das wenn du sie nährst ...« Die Seherin hält inne. Ich kann sehen, wie sie mit sich selbst ringt. Wie sie nicht das Aussprechen will, was ich von ihr verlange. »Wenn du diese Flamme nährst, wird sie dich verschlingen.«
     »Verschlingen?« Meine Stimme klirrt mehrere Oktaven höher. Ich hoffe, mich verhört zu haben, doch der ernste Ausdruck in Asterins Augen zeigt mir deutlich, dass ihre Weissagung war. Bestimmt legt sie mir ihre Hand auf meinen Rücken und drückt mich Richtung Ausgang. »Du solltest gehen.«
     Benebelt von ihren Worten nicke ich mechanisch und setze einen Fuß nach dem anderen, bis ich die Hütte verlassen habe. Immer und immer wieder hallen die Worte der Seherin in meinen Kopf wieder. Selbst als ich die Brücke überquere, nehme ich nur vage die Blicke der Dorfbewohner wahr. Zum ersten Mal seit meinen 16 Jahren in Lythanica ist es mir egal das ich als Mensch und nicht, als Werwolf geboren wurde.
     »Davina!« Eine Stimme, die einige Oktaven höher in meine Ohren dringt, lässt mich abrupt stehen bleiben.
     »Asena?« Die kleine Fee, die für gewöhnlich kaum größer wie mein Daumen ist, zeigt sich heute in einer größeren Gestalt. Mit ihrem schwarzen Haaransatz reicht sie mir knapp bis zu meinem Kinn. »Warum bist du so groß?« Ich spüre bereits die Blicke der Dorfbewohner, die wie ein Dolch auf mich einstechen. Doch diesmal sind sie nicht von Verachtung, sondern von Neugier begleitet. Ihre Neugier gilt jedoch nicht mir, sondern meiner Freundin. Die Dorfbewohner von Kyrae haben noch nie eine Fee gesehen, konnten Asena aber genau als diese identifizieren. Ihr von goldenem Glanz bedeckter Körper und ihre goldenen Flügel, die bei jedem Schlag Glitzer versprühen, haben sie verraten.
     »Ich sah keine andere Möglichkeit, deine Aufmerksamkeit zu bekommen.«
     »Tut mir leid«, murmle ich, während ich auf meine Schuhe starre. War ich etwa so sehr in Asterins Wahrsagung vertieft, das ich meine Freundin – meine einzige Freundin in Kyrae – nicht bemerkt habe? Aber kann man mir das vorwerfen? Schließlich bekommt man nicht jeden Tag zu sagen, dass das Böse in einem schlummert.
     »Davina, sprich mit mir. Was ist los?«
     Ich schaue auf und nehme überrascht Asenas sorgenvolles Gesicht wahr. Ihr für gewöhnlich glattes, von Glitzer bedecktes Gesicht ist von wenigen Falten zwischen ihren Augenbrauen und auf ihrer Stirn umgeben. So habe ich sie noch nie gesehen. Nicht einmal damals, als sie mich halb totgeprügelt am Rande des Dorfes gefunden hatte, wirkte ihre Mimik nicht halb so besorgt wie heute.
     »Ich ... ich war bei der Seherin.«
      Asena zuckt mit den Schultern. »Um Kräuter zu holen, das ist doch nichts Neues.«
     Langsam schüttele ich meinen Kopf. »Diesmal war es anders. Sie hat mir etwas vorhergesagt und ...«
     Asena schneidet mir das Wort ab, ehe ich ihr von der Prophezeiung erzählen kann. »Hör nicht auf den Stuss dieser Quacksalberin.« Die Fee macht eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie nach meinem Handgelenk greift und mich hinter sich herzieht. »Und nun beeil dich. Du bist spät dran.«
     Obwohl mich die Worte der Seherin immer noch verfolgen, kann ich dank Asena nur an meine Mutter denken, die mit aller Wahrscheinlichkeit fuchsteufelswild sein wird, da ich sie so lange habe warten lassen.

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