9 - Die Krankenstation

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Es war warm und weich um Lenoa herum, als sie aufwachte. Für einige Sekunden war das nichts Ungewöhnliches, ihr Bett in Gla'zal war immer warm und weich, selbst in den kältesten Winternächten. Zu spät fiel ihr ein, dass sie aber ja nicht in ihrem Bett in Gla'zal war, sondern ... ja, wo war sie stattdessen? Die letzte Erinnerung, die sie hatte, war das Gefühl des Fallens, und das Letzte, das sie gesehen hatte ... war schrecklich gewesen. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was es gewesen war.

Zögerlich öffnete sie die Augen. Wie zu erwarten, lag sie in einem Bett, Laken und Decke schneeweiß. Den Vorhängen um sie herum nach zu urteilen, befand sie sich in einer Art Krankenflügel. Außerhalb der Vorhänge war hier und da Gemurmel oder andere gedämpfte Geräusche zu hören. Vorsichtig versuchte sie sich aufzusetzen, wurde aber sofort von Schwindel gepackt und ließ sich wieder in die Kissen zurücksinken.

Eine Hand fuhr zu ihrem Kopf, der von mehreren Verbänden umwickelt zu sein schien. Die Berührung sendete Schmerzwellen durch ihren Kopf und ihr entwich ein schmerzerfülltes Stöhnen. Rechts von ihr wurde der Vorhang beiseite gezogen und das Gesicht einer älteren, kleinen Inaari erschien.

,,Hervorragend, du bist wach! Ich bin Heilerin Ateji und soll dich hier aufpäppeln. Hast du Hunger?'', fragte die Inaari mit einem strahlenden Lächeln, während sie die Vorhänge ganz aufzog, und deutete auf einen dampfenden Topf auf dem Tisch neben Lenoas Bett, der scheinbar Suppe enthielt.

Ohne zu zögern, griff Lenoa danach und löffelte die Suppe, wobei sie sich vorher mit Atejis Hilfe ein wenig aufsetzte. ,,Was ist passiert?'', fragte sie die Heilerin, während ihr Blick durch den Raum glitt.

Zu ihrer Linken waren noch mehr Betten mit Vorhängen, einige zugezogen, andere zeigten die darin liegenden oder sitzenden Inaari. Lenoa sah einige der Schützen, die sie von Gla'zal begleitet hatten, erkannte namentlich aber nur Arsiena, die aufrecht in ihrem Bett saß und etwas zu sich nahm, das wie eine Art von Eintopf aussah.

Rechts von ihrem Bett schienen alle untergebracht zu sein, die entweder nur leicht verletzt waren, oder nicht die Privilegien hatten, zu einer Sonderhilfsgruppe des Korpses zu gehören. Die Betten standen näher aneinander, hatten keine Vorhänge und nur einfache Leinendecken. Überall liefen Heiler und Heilerinnen in weißen Gewändern von Bett zu Bett und versorgten die Verletzten.

,,Es gab ein ziemliches Gemetzel. Es war viel Glück, dass ihr den Alpha so schnell ausgeschaltet habt, sonst hätte es böse enden können. So gab es auch schon viele Tote. Zu viele, wenn du mich fragst. Wir sind nicht auf diese Menge an Verletzten vorbereitet, ein paar liegen schon auf dem Boden und einige sterben, weil wir-''

Lenoa unterbrach die Heilerin, was dieser einen pikierten Blick entlockte. ,,Malion'', sagte sie laut. ,,Geht es ihm gut? Ist er verletzt? Wo ist er?''

,,Er hat einen Kratzer an der Hüfte von einem schlecht gezielten Hieb eines Kwirs. Bis heute Morgen war er hier bei dir und hat gewartet, bis du aufwachst, ist dann aber selbst eingeschlafen. Wir haben ihn in eines der Zimmer gebracht'', erwiderte Ateji.

,,Ich will zu ihm. Er muss sofort zurück! Bei so einer Schlacht hätte er nie mitkämpfen dürfen!'', sagte Lenoa und wollte sich, trotz des pochenden Schmerzes, der dabei durch ihren Kopf schoss, aufrichten. Ohne viel Kraftaufwand drückte Ateji sie wieder ins Bett.

,,Du gehst nirgendwohin. Du hast eine gebrochene Rippe und eine Gehirnerschütterung, die nicht die leichteste ist. Wenn wir mehr Personal hätten, würde ich nach ihm schicken, aber, wie du siehst, haben wir hier alle Hände voll zu tun. Also wirst du dich gedulden müssen'', sagte die Heilerin zwar einfühlsam, aber bestimmt.

Lenoa seufzte und aß noch ein paar Löffel Suppe. Sie wollte Malion sehen und sich selbst vergewissern, dass es ihm gut ging, aber sie sah ein, dass sie gerade nicht in der Verfassung war, auf der Suche nach ihm durch die Stadt zu wandern. ,,Was ist passiert, nachdem ich ohnmächtig geworden bin?''

,,Du lagst eine ganze Weile mitten im Kampfgetümmel. Dein Bruder hat dich wohl aus dem Gröbsten herausgezogen, sobald er dich auf dem Boden gesehen hat. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt überlebt hast, nicht jeder verarbeitet es so gut, wenn er die Tatze eines Inyanzas gegen den Kopf bekommt. Würde mich nicht wundern, wenn du einen Filmriss hast'', sagte Ateji und wusch nebenbei ein Tuch mit rostroten, getrockneten Blutflecken darauf aus.

,,Habe ich. Was ist passiert, kurz bevor ich das Bewusstsein verloren habe?'', fragte Lenoa und runzelte die Stirn bei der Anstrengung, sich zu erinnern. Sie hatte Angst gehabt. Schreckliche Angst. Dann Erleichterung, die von Horror abgelöst wurde. Aber sie konnte keine Bilder zu den Emotionen zuordnen.

,,Woher soll ich das denn wissen? Dein Bruder hat gesagt, du lagst neben der Leiche von diesem Alpha-Bekra und eurer Truppenführerin ... Lorija?'', beantwortete Ateji die Frage und mit einem Mal war alles wieder da.

Die roten Augen dieses Monsters, die auf sie fixiert waren. Das Gewissen, gleich die riesigen Reißzähne zu spüren, wie sie Lenoa zerfleischten. Die Erleichterung, als das Schwert von Lorija sich durch den Kiefer in den Kopf des Tieres bohrte. Dann das Entsetzen, während die grausamen Fangzähne sich in den Körper der Inaari gruben.

Bei der Erinnerung begann Lenoa zu zittern, und sie verschüttete den Rest der Suppe. Das Blut, der Kampflärm um sie herum. Vor ihrem inneren Auge spielte sich die Szene wieder und wieder ab. Ihre Finger krallten sich in das Bettlaken, der leere Topf der Suppe fiel auf ihrem Schoß um und rollte beinahe auf den Boden.

,,Na na na, du stehst unter Schock, Liebes. Keine Sorge, du bist jetzt sicher'', sagte Ateji fürsorglich und stellte den Topf wieder sicher auf den kleinen Tisch. Doch das war nicht der Grund für Lenoas Gänsehaut.

Es war Schuld. Lorija war wegen ihr gestorben. Ihr Leben hatte die Inaari retten wollen. Lenoa wusste, dass sie eine Tochter in ihrem Alter hatte. Zuhause, in Gla'zal, vermutlich wusste sie noch nicht mal etwas vom Schicksal ihrer Mutter. Wie würde Lenoa ihr jemals wieder in die Augen sehen können?

,,Schlaf noch ein wenig, dein Kopf braucht Ruhe. Ich muss nach ein paar anderen Patienten sehen'', meinte Ateji, die sich keine besonders großen Sorgen um Lenoa zu machen schien. Die Heilerin schenkte ihr noch ein breites Lächeln, dann zog sie die Vorhänge um Lenoas Bett wieder zu.

Als sie sich wieder in die Decke einkuschelte, beruhigte sie sich langsam wieder. Die Müdigkeit zerrte beinahe sofort an ihr, aber noch hielt sie sich davon ab zu schlafen. Der Schock über das Geschehene verflog und machte Angst und Hoffnungslosigkeit Platz.

Gestern Abend war beinahe die zweitgrößte Stadt der Inaari'i eingenommen worden. Daotan war um einiges mächtiger, als Lenoa gedacht hatte. Seine Festung lag im Süden, aber die Streitmacht der Kwir hier im Norden Arlemias war stark genug gewesen, um unvorbereitet viel Schaden anzurichten. Zu viel Schaden.

Lenoa war ja noch nicht draußen gewesen, aber sie war sich sicher, dass große Teile der Stadt dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Viel zu viele Schwertkämpfer lagen hier auf der Krankenstation. Bei einem erneuten Angriff würden sie kaum genug Widerstand leisten können.

Ihr Land starb. Nicht nur die Bewohner, die von Kwir und Bekra niedergemetzelt wurden. Auch die Erde selbst litt. Lenoa spürte es, so wie sie die Schmerzen in ihrem Kopf spürte.

Arlemia lebte von der Königin. Die Pflanzen gediehen, wenn die Königin - seltener auch der König - wohlauf war und gingen ein, wenn diese krank war. Wenn es gar keine Königin gab ...

Lenoa wusste, dass es in ihren Händen lag. Sie war Ma'kani. Wenn jemand Arlemia retten konnte, dann sie. Nur wusste sie nicht, ob es nicht schon zu spät dafür war, wenn der Schatten schon so tief vordrang. Zwar würde sie es auf jeden Fall versuchen, aber eigentlich machte sie sich keine großen Hoffnungen mehr.

Voller Zweifel und Sorge sank Lenoa dann in den Schlaf, aber sie wachte in den nächsten Stunden immer wieder schweißgebadet auf. Albträume von Lorijas Tod und wabernden Schatten verfolgten sie. Als es draußen dunkel wurde, blieb sie länger wach, versuchte etwas zu essen, brachte aber nichts hinunter und starrte dann einfach an die Decke.

Nach einer halben Stunde driftete sie wieder in einen unruhigen Schlaf über, gleichermaßen gestört von ihren Albträumen und anderen unruhigen Patienten auf der Krankenstation, die sie beide nicht ausblenden konnte. Irgendwann drehte sie sich einfach auf den Rücken und blickte ins Nichts, bis die Morgendämmerung einsetzte.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWo Geschichten leben. Entdecke jetzt