,,Kennst du diesen Zwerg, Paradur?", fragte Lenoa, während sie einen neuen Pfeil anlegte und zielte. Es konnte immer noch ein Hinterhalt sein und dieser Fremde nur der Lockvogel.
,,Nicht wirklich. Ich glaube mich zu erinnern, ihm ein paarmal über den Weg gelaufen zu sein, aber ich habe keine Ahnung, auf wessen Seite er steht", beantwortete Paradur die Frage.
,,Nicht auf Daotans, das könnt ihr mir glauben", beteuerte der Neuankömmling sofort. ,,Ich habe gehört, wie der Mensch am Tor mit den Wachen gesprochen hast. Ich kann euch helfen, über die Berge zu kommen."
Lenoa musterte ihn. Er war noch kleiner als Paradur und, soweit sie das unter seiner groben Kleidung beurteilen konnte, recht mager. Sein schwarzer Bart war verfilzt und wurde auf Schulterhöhe von einem kleinen Metallring zusammengebunden. Unter dem linken Auge hatte er einen halb verheilten Schnitt. Da er seinen Gürtel abgelegt hatte, sah sie keine weiteren Waffen bei ihm.
,,Warum sollten wir dir vertrauen?", fragte Arsiena und wandte den Blick keine Sekunde von ihm ab, bereit, bei jeder falschen Bewegung zu schießen und das Leben des Fremden zu beenden.
,,Mein großer Bruder wurde umgebracht. Weil er vor Erschöpfung nicht mehr ordentlich arbeiten konnte. Mein Vater ist eingesperrt, weil er sich über die Arbeitszeiten beschwert hat. Mein anderer Bruder ist auf Daotans Seite und hat mir gedroht. Ich finde niemanden, der mutig genug ist, mit mir zu fliehen", sagte Kelmor und klang dabei so verzweifelt, dass Lenoa ihm unwillkürlich Glauben schenkte.
,,Das ist kein Beweis", wehrte Paradur ab und deutete mit seiner Axt auf Kelmor. ,,Wir sollten ihn umbringen, bevor er uns zuvor kommt."
Der Fremde wandte sich jetzt direkt an Paradur und sah ihn flehentlich an. ,,Bitte, nehmt mich mit. Ich will keine Waffen mehr schmieden, die für einen unnötigen Krieg verwendet werden." Er zögerte etwas. Lenoa bemerkte, dass er beim Sprechen unablässig an seinem Bart herum zupfte.
,,Paradur", murmelte er leise, als würde er versuchen, sich an etwas beinahe Vergessenes zu erinnnern. ,,Paradur!", rief er dann plötzlich erfreut aus. ,,Du warst mit meinem Bruder befreundet, als ihr noch klein wart, habt euch aber zerstritten. Er hat ab und zu von dir erzählt, ich war damals gerade erst geboren."
Paradur legte die Stirn in Falten und überlegte eine Weile. Lenoa sah von ihm zu Kelmor und wieder zurück. Auch, wenn sie jetzt - aus gutem Grund - feindselig waren, wusste sie doch, dass Kelmor die Chance war, die sie gebraucht hatten. Wie sollten sie auch sonst über die Berge kommen?
,,Doran", sagte Paradur dann und lockerte den Griff um seine Axt ein klein wenig.
Kelmor seufzte erleichtert und nickte so heftig, dass der Metallring um seinen Bart auf seiner Brust ein leises Klackern erzeugte. ,,Mein Bruder, ja", erwiderte er und strahlte.
,,Er könnte trotzdem noch zu Daotan übergelaufen sein", warf Malion ein und beäugte Kelmor weiterhin kritisch.
,,Nein. Nicht, wenn er auch nur ein wenig Ähnlichkeit zu Doran hat", entgegnete Paradur und schüttelte den Kopf. ,,Ich denke, wir können ihm vertrauen."
Kelmors Strahlen wurde noch breiter. ,,Also. Wohin geht's?", fragte er und sah neugierig zwischen den Reisenden hin und her. Lenoa steckte den Pfeil zurück in ihren Köcher und Arsiena folgte ihrem Beispiel. Auch Arian ließ sein Schwert wieder sinken.
Auf die Frage antwortete keiner und so breitete sich Schweigen aus. ,,Du kennst den Weg über die Berge?", fragte Lenoa stattdessen.
Kelmor, der jetzt wieder etwas verunsichert wirkte, nickte zögerlich und begann wieder, an seinem Bart herum zu zupfen. ,,Natürlich. Mein Vater hat ihn mir gezeigt. Aber ich brauche schon ein Ziel. Sonst weiß ich ja nicht, wo ich euch hinführen soll."
Wieder folgte Schweigen. Obwohl Paradur sagte, man könne Kelmor vertrauen, schien es Lenoa doch etwas zu riskant ihm zu sagen, wohin sie wollten und weshalb.
,,Du wirst das doch sicherlich nicht ohne Preis machen. Der Weg über die Berge ist gefährlich", meinte Malion und musterte ihn.
,,Meine einzige Bedingung ist, dass ihr mich nicht an die anderen Zwerge verratet und mich danach mitnehmt, wohin auch immer ihr geht", sagte Kelmor ruhig.
Auch diese Aussage war in Lenoas Augen problematisch. Je mehr sie waren, desto leichter zu entdecken waren sie auch. Und so würde er zweifelsohne irgendwann erfahren, was der wahre Grund für ihre Reise war.
,,Wir müssen uns besprechen", sagte Arsiena schließlich. ,,Du kommst morgen bei Sonnenaufgang reisefertig wieder hierher. Lass dich nicht erwischen."
Sofort nickte Kelmor. ,,Ich werde da sein", versprach er und nahm den Gürtel mit seiner Axt wieder auf. Malion richtete seine Pfeilspitze sofort wieder auf ihn, doch die Hand des Zwerges kam nicht in die Nähe seiner Waffe.
Schweigend beobachtete die Gruppe, wie Kelmor sich umwandte und wieder zu seinesgleichen zurückkehrte.
,,Wir dürfen ihm nicht vertrauen", sagte Malion sofort, sobald er außerhalb der Hörweite war. ,,Paradur, du kennst nur seinen großen Bruder. Wer sagt denn, dass Kelmor nicht doch zum Schatten gehört? Er wird uns verraten!"
,,Wir haben keine andere Wahl", schnaubte Paradur, während er seine Axt wieder wegsteckte und sich zu ihnen umdrehte. Die Sonne versank am Horizont und es wurde immer dunkler. ,,Anders kommen wir nicht über das Gebirge."
,,Und wenn wir außenherum gehen? Dann haben wir keine Schwierigkeiten mit den Zwergen", schlug Malion vor, doch Paradur verdrehte nur genervt die Augen.
,,Das dauert viel zu lange. Wir müssen den kürzesten Weg nehmen, sonst können wir es gleich vergessen, Daotan noch zurückzuschlagen."
,,Er hat recht. Wir müssen Kelmor vertrauen. Und er klang ehrlich verzweifelt", sagte Arian, während sie sich in der Dämmerung in einen Kreis zusammensetzten, die Waffen immer griffbereit. ,,Außerdem wusste er ja offensichtlich wo wir sind und er hätte uns schon längst verraten können."
,,Wer sagt, dass er das nicht schon längst getan hat? Wenn hier gleich zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Zwerge auftauchen?", fragte Malion herausfordernd.
,,Dann werden wir gegen sie kämpfen müssen. Ich glaube nicht, dass Kelmor uns etwas Böses will", mischte Arsiena sich ein. ,,Dafür waren seine Emotionen zu echt. Aber angenommen, er wird gefangen genommen und gefoltert. Dann verrät er Daotan, dass Ma'kani auf dem Weg ist, ihre Aufgabe zu erfüllen und wir werden gejagt."
,,Das Risiko besteht doch bei uns allen", widersprach Arian. ,,Er wird es sowieso irgendwann herausfinden, wenn er mit uns reist."
,,Deswegen sollten wir ihn ja auch nicht mit uns reisen lassen", beharrte Malion kopfschüttelnd. ,,Es ist zu gefährlich. Er kann uns einfach den Weg über das Gebirge erklären."
,,Lenoa, was sagst du dazu?", fragte Arsiena dann plötzlich und sah zu ihr. ,,Du bist Ma'kani. Ich finde, du solltest das letzte Wort haben."
Lenoa sah überrascht auf und zuckte mit den Schultern. Sie hatte der Diskussion nur mit halbem Ohr zugehört. Ihre Gedanken waren immer wieder abgeschweift, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.
,,Ich weiß nicht", sagte sie, um noch einen Moment Zeit zu haben, ihre Gedanken zu ordnen. ,,Paradur hat schon recht. Wir haben keine andere Möglichkeit", meinte sie dann nach einigen Sekunden. ,,Ich denke, wir sollten sein Angebot annehmen, ihm aber möglichst wenig von unserem Vorhaben erzählen und erst recht nicht von mir."
,,Was machen wir dann, wenn wir auf der anderen Seite sind?", fragte Malion herausfordernd. ,,Ihn umbringen? Oder wirklich mitnehmen?"
,,Wenn er uns sicher durch die Berge führt, können wir ihm doch vertrauen und ihn auch mitnehmen, vorausgesetzt er will noch, nachdem wir ihm verraten haben, wo wir hin wollen. Wenn er uns nicht sicher durch die Berge führt, sind wir sowieso alle tot oder gefangen", erwiderte Lenoa.
Malion sah eigentlich immer noch so aus, als wollte er widersprechen, doch scheinbar waren alle gegen ihn, also verstummte er und gab mit einem Nicken seine - wenn auch widerstrebende - Zustimmung.
Wie sehr sie Kelmor vertrauten, wurde allerdings klar, als sie sich alle einig waren, in dieser Nacht lieber zwei Wachen aufzustellen. Zum Essen waren sie alle zu nervös, und so legten Arian, Malion und Lenoa sich schlafen, während Arsiena und Paradur die erste Wache übernahmen.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...