Berge. Überall Berge, wohin Lenoa auch blickte. Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie standen auf einem Felsvorsprung, vor ihnen ging es an einem Geröllhang entlang in die Tiefe. Ein steiles Tal trennte sie von einer weiteren Gebirgskette.
Die Gipfel waren von Schnee bedeckt und hingen in den grauen Wolken, die die letzten Tage immer weiter zugenommen hatten. Etwas weiter westlich gab es einen Einschnitt in die Bergkette. Dahinter waren nichts als weitere Gipfel, Hänge, Täler.
Keiner sagte etwas. Es war still, bis auf das entfernte Rauschen eines Wasserfalls und den keuchenden Atem der Reisenden. Lenoas Magen knurrte leise, doch sie nahm es nicht wahr.
Ihr war ja klar gewesen, dass das Ankyrila-Gebirge riesig war. Aber dass es sich so weit vor ihnen erstreckte, nachdem sie schon so lange gelaufen waren, war entmutigend. Es kam ihr so vor, als hätten sie überhaupt keinen Fortschritt gemacht.
,,Was machen wir jetzt?", fragte Malion leise und ließ sich auf einen flachen Felsen fallen. Er sah erschöpft aus, obwohl es erst kurz nach Mittag war. So sahen sie alle aus.
,,Weitergehen natürlich", sagte Lenoa, aber sie merkte selbst, wie dünn ihre Stimme klang. Sie trank etwas Wasser - von dem es in den Bergen glücklicherweise mehr als genug gab - und räusperte sich.
,,Dort hinten habe ich Wasserplätschern gehört. Wir können den Nachmittag Pause machen und dann weitergehen", schlug sie vor.
Keiner verschwendete die Kraft für eine Antwort, aber alle folgten ihr wieder ein Stück zurück. Durch eine Art Felsspalt kamen sie zu einem kleinen Teich in der Sonne, eingekesselt von Felsbrocken und grüner Wiese. Dankbar streckten sie ihre schmerzenden Füße in das kühle Wasser und ruhten sich aus.
,,Kelmor hat gesagt, wir müssen über die höchsten Berge, das ist der schnellste Weg. Wir müssen nur hoffen, dass wir da oben in keinen Schneesturm kommen", murmelte Lenoa und drehte den Kopf zur Sonne.
,,Hast du den Einschnitt da rechts nicht gesehen?", fragte Arian zögerlich. ,,Dort würde es bestimmt schneller gehen. Wir müssen nicht so weit bergauf. Und ein großer Umweg ist es nicht."
,,Warum hat Kelmor dann gesagt, dass es oben über den Pass schneller geht?", fragte Paradur und legte die Stirn in Falten.
,,Weil er ein Verräter war, Dumpfbacke", entgegnete Malion, während er die Augen verdrehte. ,,Er hatte doch keinen Grund, uns die Wahrheit zu sagen. Ich bin dafür, dass wir es durch den Einschnitt versuchen."
,,Hey, nenn mich nicht Dumpfbacke!", fauchte Paradur und hatte die Hand schon an seiner Axt.
Lenoa seufzte nur und ignorierte die beiden. Die ganze Zeit griffen sie immer wieder nach den Waffen, taten sich aber nie etwas. Auch den Streitereien, die jetzt wieder losgingen, schenkte sie keine Beachtung. So wie immer verstummten die beiden, nachdem sie sich einige Beleidigungen an den Kopf geworfen hatten und beschränkten sich auf giftige Blicke.
Bis zum Abend griff niemand die Diskussion wieder auf. Paradur und Arsiena waren dann aber die Einzigen, die auf die Wegbeschreibung Kelmors hören wollten und so überstimmten Malion, Arian und Lenoa sie.
Ein weiteres, karges Mahl wurde eingenommen. Sie hatten die erdfarbenen Knollen aus den Lagerräumen der Menschen schon im Wald mit den roten Bäumen gegart und aßen sie nun kalt. Ein Feuer war allen zu riskant.
Anfangs hatte Lenoa den Geschmack gemocht und sich gefreut, dass sie so eine gute Wegzehrung hatten. Inzwischen hatte sie seit mehreren Tagen nichts anderes mehr gegessen und sie konnte die Teile langsam nicht mehr sehen. Eine Einzige zwang sie sich zu essen, den Rest verstaute sie wieder. Die Reise würde noch lange genug dauern. Sie hatte seit ihrem Aufbruch aus Gla'zal ziemlich an Gewicht verloren und war sich sicher, dass man das recht deutlich sah. Trotzdem trank sie nur noch etwas und legte sich dann hin. Inzwischen war sie so müde, wie an jedem Abend ihrer Reise. Ihre Füße schmerzten und sie hatte Muskelkater in den Oberschenkeln. Vermutlich ging es den anderen nicht besser.
Morgens packten sie schweigend ihre Sachen zusammen und brachen ohne Frühstück wieder auf. Inzwischen hatte auch Arian keine gute Laune mehr. Weder scherzte er und versuchte so alle aufzuheitern, noch fragte er sie über ihre Heimat und Kultur aus.
Es war eine Herausforderung, die Felswand hinunterzukommen. Lenoa fand einen halb überwucherten Wildtierpfad, der sich in Schlangenlinien die beste Route nach unten suchte. Zweimal war einer von ihnen kurz davor, auf den lockeren Steinen auszurutschen. Sie trauten sich keine Pause zu machen, aus Angst vor einem Steinschlag. Einmal trat Arian versehentlich einen kleinen Stein los, der den Hang hinunter kullerte und immer mehr Steine und Felsen mitnahm, bis eine regelrechte Lawine ins Tal rauschte.
Am Nachmittag kamen sie unten an und ließen sich erschöpft zu einer Pause nieder. Es war still in diesem Tal, beinahe kein Tier war zu sehen oder zu hören. Ein kleiner Teich war alles, was sie fanden, um ihren Durst zu stillen und ihre Wasserschläuche aufzufüllen. Das Wasser schmeckte ein wenig vermodert, trotzdem trank Lenoa eine Menge davon. Von dem steilen Abstieg zitterten ihre Beine noch eine halbe Stunde, nachdem sie die Rast begonnen hatten.
Als die Sonne schon begann, hinter den Bergen im Westen zu versinken, gingen sie noch ein Stück weiter durch den Wald. Die federnden Nadeln waren nach dem harten Geröll eine Wohltat für Lenoas Füße. Es gab hier wenig Unterholz und so trauten sie sich auch im Dunkeln noch ein Stück weiterzulaufen, denn jedes Geräusch drang laut durch die Bäume und die hohen Äste verbargen keine Bewegung auf dem Boden.
Lenoa war froh, dass sie in noch keinen Kampf geraten waren. Sie waren alle nicht mehr in einer guten Verfassung. Durchgehend erschöpft und hungrig wären sie keine starken Gegner.
Trotzdem fühlte sie sich unter den Bäumen besser. In einer kleinen Mulde schlugen sie ihr Nachtlager auf. Die Umgebung war übersichtlich und keiner konnte sich mehr hinter Felsbrocken oder der nächsten Kurve verbergen.
Lenoa und Malion übernahmen die erste Wache. Paradur wollte sich weigern, seine Sicherheit in ihre - beziehungsweise hauptsächlich Malions - Hände zu legen, aber alle, außer er selbst, waren dagegen, dass Paradur mit Malion zusammen Wache halten sollte.
Schließlich schlief Malion neben Lenoa ein und sie hielt allein weiter Wache. So war es ihr ohnehin lieber. Sie war schuld daran, dass die anderen vier hier waren und sie sollte die Verantwortung dafür tragen, dass sie auch wieder nach Hause kamen.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...