Lenoa achtete nicht darauf, wo sie hinlief, und ehe sie sich versah, befand sie sich wieder im alten Königshof. Das Licht der drei Monde erhellte die Ruinen leicht und verdeutlichte das Fehlen des Koryns, das bisher jegliches Licht absorbiert hatte.
Langsam, Inzarn locker in der linken Hand, trat sie zur Mitte vor, dort, wo der gespaltene Steinsockel stand. Vorsichtig wischte sie mit der Handfläche über die aufgrund der Spaltung abgeschrägte Fläche und wirbelte so eine kleine Staubwolke auf. Beinahe hatte sie das Bild von jenem Vormittag im Kopf, als die Krone Elrysia hier gelegen hatte, silbern glitzernd im hellen Sonnenschein.
,,Warum hast du so lange gewartet?'', fragte eine leise, rauchige Stimme und Lenoa zuckte stark zusammen.
,,Wer ist da?'', fragte sie alarmiert und hielt Inzarn nun reflexartig in Kampfposition.
,,Steck das Schwert weg, Mädchen'', sagte die Stimme und endlich erkannte Lenoa sie.
,,Nazilda?'', fragte sie und die uralte Inaari trat aus den Schatten der Ruinen.
Sie stützte sich schwer auf einen knorrigen Gehstock und ließ sich behäbig auf die Überreste einer Mauer fallen. ,,Komm zu mir'', ordnete sie an, und Lenoa setzte sich in respektvollem Abstand neben sie, das Schwert nun wieder lasch an ihrer Seite.
Mehrere Minuten lang schwiegen sie beide. ,,Woher wusstest du es? Dass ich es bin, meine ich?'', fragte Lenoa schließlich und hielt den Blick zu den drei Monden gerichtet.
,,Denkst du wirklich dich hat niemand gesehen, so laut wie du durch den Wald getrampelt bist? Das Königsblut in mir treibt mich oft nachts raus in die Natur. Ich habe alles gesehen'', offenbarte Nazilda.
Weniger die Tatsache, dass die Inaari allein draußen im Wald schlief, überraschte Lenoa, als der Grund für diese Angewohnheit. ,,Du ... Du hast Königsblut?'', fragte sie fassungslos. Deswegen lebte Nazilda auch so lange, ein typisches Zeichen für das Blut der Königinnen und Könige.
,,Natürlich hab ich das'', erwiderte Nazilda, als wäre es selbstverständlich. ,,Königin Nijera war meine Nichte. Und ihre Mutter, die vorletzte Königin, meine ältere Halbschwester Aviela. Wehe du erzählst das jemandem Mädchen, ich habe die letzten paar Jahrzehnte damit verbracht, alle zu überleben, die davon wissen.''
,,Ich werde nichts verraten'', versprach Lenoa, bevor sie darüber nachdenken konnte, was das bedeutete. ,,Warum willst du es geheim halten?''
Doch bevor Nazilda antworten konnte, kam ihr eine Idee. Eine fantastische Idee. ,,Warte mal einen Moment. Du hast Königsblut. Du bist berechtigt auf den Thron zu steigen. Du kannst Königin werden, und ich einfach bleiben, was ich bin!'' Mit begeistert leuchtenden Augen drehte sie sich zu Nazilda, stellte aber irritiert fest, dass die Ältere dasselbe unbestimmbare Geräusch wie am Nachmittag von sich gab. Sie lachte.
,,Ich ... Ich soll ... regieren?'', fragte die alte Inaari kichernd und schüttelte immer wieder den Kopf. ,,Oh nein, oh nein, nicht wenn jedes Geschöpf in Arlemia mich auf Knien darum bittet. Ich kämpfe seit gut 190 Jahren dagegen an. Ich bin auch noch ein Mischling. Aviela und ich hatten zwar dieselbe Mutter, aber mein Vater war ein einfacher Schütze. Bei ihm habe ich die meiste Zeit gelebt, bis ich die Wahrheit herausgefunden habe. Mein Königsblut ist also verunreinigt.''
Es verwirrte Lenoa ein wenig, so viel über die Inaari zu erfahren, wo diese doch sonst immer die klischeehafte, geheimnisvolle Älteste war. ,,Aber du hast mehr davon als ich. Oder Ma'', warf sie ein.
,,Deine Mutter ist ja auch keine Königin, sondern Fürstin. Sie regiert, bis wir wieder eine Königsfamilie haben. Und der erste Schritt dafür ist die Aufgabe Ma'kanis. Weswegen wir hier sind'', erwiderte Nazilda und sah Lenoa aus ihren von runzliger Haut umgebenen, beinahe blinden Augen an.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...