4 - Der Turm

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Die Röte der untergehenden Sonne verlieh der glänzenden Klinge des Schwertes eine unnatürliche Farbe und ließ die darin eingravierten Buchstaben deutlicher hervorstechen. Narylas. Königin.

Lenoa fuhr mit einer Hand das geschmiedete Metall entlang und glitt mit dem Daumen über die Schneide. Sie wusste, dass sie sich nicht daran verletzen konnte, auch, wenn das Schwert zweifellos das Schärfste seiner Art war.

Es war aus Alsad geschmiedet worden, dem Inaaristahl, der härter war, als jegliche Metalle der Zwerge in ihren riesigen Schmiedehallen.

Inzwischen saß sie wieder auf dem Nordturm, und die Sonne versank langsam am Horizont hinter dem Ankyrila-Gebirge. Sie hatte gewartet, bis sie sich sicher war, dass der alte Palast wieder verlassen und ihre Mutter weg war, bis sie wieder ans Tageslicht getreten und, ohne mit jemandem zu sprechen, hier herauf gekommen war.

Lenoa fühlte sich nun nicht mehr wie Ma'kani, wie jemand, der ganz Arlemia retten konnte. Ihre Entschlossenheit, ihr Temperament, ihr Selbstbewusstsein, alles hatte sich mit ihrer Flucht tief in sie zurück gezogen. Nun fühlte sie sich erschöpft und ratlos, was sie als nächstes tun sollte. Sollte sie wieder zurück zu ihrer Mutter? Wenn nicht, was sollte sie sonst tun? Für immer hier oben auf dem Nordturm sitzen? Oder doch Inzarn abgeben? Nein, sagte sie sich. Das kam nicht in Frage, lieber versauerte sie hier oben auf dem Turm.

Obwohl sie so in Gedanken versunken war, hörte sie die leisen Schritte auf der Turmtreppe und das Rascheln der Kleidung, als sich jemand neben sie setzte. Lenoa musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer es war.

Ihr Bruder und sie hatten eine enge Verbindung zueinander, die bei Inaarigeschwistern nicht ungewöhnlich, bei ihnen beiden jedoch besonders stark war. Vor allem nach dem Tod ihres Vaters. Meistens wusste Lenoa, wo sich Malion aufhielt und andersherum, und besonders starke Gefühlsregungen bekamen sie auch vom jeweils anderen mit. Es war wie ein kleiner Teil ihres Bewusstseins, den sie mit ihrem Bruder teilte.

Eine Weile schwiegen sie beide. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über das Land und erhellte gerade noch die Spitze des Turms. Das Schwert glitzerte im roten Licht, das sich im blauen Kristall am Knauf brach.

,,Maduk hat mir erzählt, was passiert ist'', sagte schließlich Malion leise. ,,Und mit Nazilda habe ich auch gesprochen.''

Lenoa drehte langsam den Kopf und sah ihn an. ,,Mit Nazilda? Was hat sie gesagt?'', fragte sie leise nach.

Malion schüttelte leicht den Kopf. ,,Mir nicht viel. Sie wollte mit dir sprechen.''

Sie seufzte kaum merklich. Das war zu erwarten gewesen, bedeutete aber gleichzeitig, dass sie den Turm hier verlassen musste, und so das Risiko einging, ihrer Mutter zu begegnen. Aber das würde sie wohl in Kauf nehmen, denn sie hatte das Gefühl, Nazilda wusste mehr, als irgendjemand bis jetzt geahnt hatte.

Wieder schwiegen sie beide, aber es war keine drückende, unangenehme Stille. Lenoa war, wie fast immer, froh um Malions Gesellschaft, die viel zwangloser und angenehmer als die ihrer Mutter war.

,,Ich kann nicht glauben, dass du es bist'', flüsterte Malion schließlich und Lenoa sah aus dem Augenwinkel, wie er von Inzarn zu ihr blickte und wieder zurück.

,,Dann sind wir uns ja einig. Aber ich vermute, es gibt keine Ausrede dafür.'' Sie tippte mit dem Zeigefingernagel auf die Klinge des Schwertes, und der Alsad erzeugte ein klingendes Geräusch, das bei Lenoa eine Gänsehaut auslöste.

,,Inzarn.'' Der Name aus dem Mund ihres Bruders klang vertraut, als hätte sie ihn das Wort schon zigtausend Mal ausprechen hören. ,,Maduk hat gesagt, Ma konnte es nicht berühren. Meinst du, ich ...?'', fragte er dann und streckte eine Hand nach dem Schwert aus, hielt aber noch einen Sicherheitsabstand von einigen Zentimetern.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWo Geschichten leben. Entdecke jetzt