32 - Der Schwur

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,,Lenoa...'', sagte Arsiena leise und schlug dabei einen Ton an, der Lenoa nur wütend machte. Sie war kein kleines Kind, das man trösten musste, weil es keine Nachspeise bekam. Sie war nicht schwach. Sie brauchte kein Mitleid.

,,Was?'', fragte sie deswegen gereizt und für ein paar Sekunden herrschte Stille. Dann bewegte sich Kelmor ein klein wenig und Lenoas kühler Blick richtete sich auf ihn.

Kelmor zuckte zusammen und sah hilfesuchend zu den anderen dreien. ,,Ihr habt euch noch nicht entschieden, was mit mir passiert'', stellte er leise fest.

Alle Blicke richteten sich auf Lenoa. Ihre Augen wurden schmal und sie presste die Lippen aufeinander. ,,Ihr habt nicht vor zu gehen, bevor ich mir nicht anhöre, was er zu erzählen hat, richtig?''

Sie wartete auf keine Antwort, sondern setzte sich zu ihnen und ließ Kelmor nicht aus den Augen. Eine Hand lag auf Inzarns Griff an ihrer Hüfte. ,,Mach es kurz.''

,,Ich habe euch nicht verraten!'', platzte Kelmor sofort heraus. ,,Ich bin nie mit euch in die Berge gegangen. Erinnerst du dich noch daran, dass ich euch von meiner Familie erzählt habe und dass mein Bruder zu Daotan gehört?''

Er wartete wohl auf eine Antwort von Lenoa, aber nach einigen Sekunden gab er es auf und sprach weiter.

,,Nun ... Ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass es ein Zwillingsbruder ist. Er hat mich gesehen, als ich wiedergekommen bin und mich gefangen genommen. Melkor ist an meiner Stelle zu euch gekommen und hat euch in den Hinterhalt geführt.''

Seine Hände, mit einem provisorischen Stoffband zusammen gebunden, zuckten unruhig, während er sprach. Seine Finger waren knochig und dünn, insgesamt war er recht mager und sah nicht gesund aus.

,,Ich sollte nach Dun Leor gebracht werden, zum Kwir-Stützpunkt weiter südlich. Aber es gab Nachricht von fünf Reisenden, die in den Bergen auf dem Weg nach Süden gesehen wurden. Das hat Hektik ausgelöst und ich konnte fliehen. Indem ich mich als Melkor ausgegeben habe, bin ich in den Trupp gekommen, der euch hier abfangen sollte.''

Kelmor sah Lenoa nervös an und wartete auf eine Reaktion ihrerseits, doch sie ließ sich Zeit. Noch musterte sie ihn mit distanzierter Nachdenklichkeit und ließ sich nicht anmerken, was sie dachte.

Malion würde ihn töten. Das war so offensichtlich, wie dass die Sonne auf- und unterging. Ihr Bruder hatte dem Zwerg nie vertraut, er würde seinen Tod wollen.

Andererseits neigte Malion manchmal auch zu voreiligen Schlüssen.

Lenoa ließ ihre Gedanken weiter zurück wandern. Noch immer war ihr Kopf nicht auf der Höhe und es brauchte eine Weile, bis sie es schaffte, die Puzzleteile zusammenzufügen.

,,Macht seine Hände los'', befahl sie, was kurz für Überraschung sorgte, dann schnitt Arian das Band aber mit seinem Dolch durch.

Hoffnung schimmerte in Kelmors Augen. ,,Danke. Vielen viel-''

,,Ich habe nicht gesagt, dass wir dich freilassen'', unterbrach ihn Lenoa kühl und beobachtete ihn genau. Sie musste ihn nur dazu bringen, nochmal ein paar Worte am Stück zu reden. ,,Was macht dein Bruder jetzt?''

,,Er ... Er ist auf dem aufsteigenden Pfad. Er gewinnt an Ansehen und hat immer mehr zu sagen. Vermutlich wird er mich töten wollen. Deswegen müsst ihr mich mitnehmen, bitte! Ihr seid gute Kämpfer. Ich auch, aber allein habe ich keine Chance.'' In seine Stimme trat etwas flehentliches. Seine Hand hatte kurz nach oben gezuckt, aber, als hätte er es diesmal bemerkt, hatte er sie wieder in seinen Schoß gelegt.

Wieder ließ Lenoa sich Zeit mit einer Antwort. Sie hatte keine Beweise, aber sie war sich dennoch sicher. ,,Er spricht die Wahrheit'', sagte sie leise. In Gedanken entschuldigte sie sich bei Malion und versprach mit einem Blick auf die Glut hinter ihr, dennoch Rache zu nehmen. An den richtigen Wesen.

,,Woher willst du das wissen?'', fragte Paradur und legte die Schneide seiner Axt an Kelmors Kehle an, als Zeichen, dass er jeder Zeit bereit war zu töten. Kelmor schluckte schwer und traute sich offensichtlich nicht mehr, etwas zu sagen.

,,Ihr müsst nur hinsehen. Wenn er spricht, zupft er unablässig an seinem Bart herum. Das hatte ich auch bei Melkor bemerkt, oder eben nicht bemerkt. Deswegen war mir den ganzen Morgen, als wir in die Berge gegangen sind, unwohl. Ein Teil von mir wusste, dass etwas faul war. Der Schnitt unter seinem Auge sah wieder frischer aus. Ich dachte, er hat ihn einfach aufgekratzt, aber er hat ihn sich absichtlich zugefügt, um auszusehen wie sein Bruder.''

Sie wandte sich direkt an Paradur. ,,Er hat dich Verräterzwerg genannt. Ich fand das unpassend, weil er ja eigentlich auch einer war. War das aber Melkor, passt die Bezeichnung, weil er dich ebenso hassen musste wie seinen Bruder.''

,,Danke, dass du mir glaubst'', flüsterte Kelmor leise. Paradur zischte ihm ein Wort in der Sprache der Zwerge zu und übte mit seiner Axt ein klein wenig Druck auf seine Kehle aus, sodass ein einzelner Blutstropfen austrat.

,,Lass ihn'', sagte Lenoa. Ihre Stimme war kühl, beherrscht. Das Gegenteil dessen, was sie fühlte.

Paradur schien kurz zu überlegen, nahm dann aber seine Axt von Kelmors Kehle und warf ihm nur einen warnenden Blick zu.

,,Packt eure Sachen. Wir müssen aufbrechen'', sagte Lenoa knapp und hob Kelmors Axt vom Boden auf. Nachdem sie sie kurz betrachtet hatte, warf sie sie ihm zu.

,,Du gibst ihm eine Waffe?'', fragte Paradur und musterte ihn misstrauisch.

,,Er hat uns nicht betrogen, er wird es auch nicht mehr tun. Fahr die Krallen ein.'' Lenoa wunderte sich einen kurzen Moment über sich selbst, dann kam es ihr allerdings natürlich vor, Anweisungen zu verteilen.

Sie nahm die Hand von Inzarn und bemerkte, dass wieder ein leichter Wind aufgenommen war. Er wehte genau nach Süden, die Richtung, die sie nun abermals einschlagen würden.

Lenoa machte sich aufbruchsbereit und kehrte dann nochmal zu der Stelle zurück, an der sie ihren Bruder verbrannt hatte. Die Glut war noch heiß und rot, hier und da züngelte eine kleine Flamme nach oben. Einzelne Teile waren nicht brennbar und lagen in der Asche herum.

Sie blieb stehen und hob eine rußige Pfeilspitze vom Boden auf. Instinktiv wusste sie, dass es keine von Malions Pfeilen gewesen war, sondern eine der ihren.

Für einen Moment überlegte sie, ob sie das Metallstück als Andenken behalten sollte. Sowohl an Malion als auch ihren Vater, von dem sie ihren Bogen geschenkt bekommen hatte.

,,Ich werde Rache nehmen'', flüsterte sie leise und wiederholte damit ihre Gedanken von zuvor. ,,Für dich. Für unseren Vater. Ich werde euch rächen. Koste es was es wolle. Erst dann werde ich ruhen.''

Ohne noch länger zu zögern, warf sie die Pfeilspitze zurück in die restliche Asche. Die glühende Wut in ihrem Inneren war alles, was sie brauchte, um dieses Versprechen einzulösen.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWo Geschichten leben. Entdecke jetzt