Die Kwir ließen sich nicht blicken und das war um einiges beunruhigender als ein offener Kampf. Lenoas Wache verlief ruhig und ziemlich langweilig, sie war ein paar Mal kurz davor einzuschlafen. Als sie es dann schließlich durfte, waren ihre Träume voller nebeliger Gestalten, die ihre Klingen nach Lenoa ausstreckten und sie doch nicht berührten.
Als sie am Morgen von Malion geweckt wurde, erfuhr sie, dass auch während der anderen Wachschichten nichts Ungewöhnliches passiert war. Sobald die Sonne ihre ersten Strahlen zwischen den Bäumen hindurchschickte, kletterten sie von den Bäumen und liefen weiter. Sie verließen jetzt den Wald und gingen weiter über die offenen Wiesen, wobei Lenoa sich dabei ertappte, wie sie den Kopf etwas einzog, um nicht so leicht sichtbar zu sein.
Keiner entdeckte sie. Oder zumindest zeigte sich keiner, denn sie waren sich nicht sicher, ob die Kwir sie wirklich verloren hatten, oder ob sie nach wie vor nur auf eine Gelegenheit warteten. Auf was für eine, wussten sie ebenfalls nicht.
Aus der Ungewissheit heraus gingen sie weiter, noch immer so vorsichtig und wachsam wie irgendwie möglich. Sie waren die Gejagten, die nicht wussten, wo sich der Jäger befand. Die Beute, die das Raubtier im Wald nicht sah.
Es wurde Mittag. Lenoa fühlte sich wieder sicherer. Die Kwir konnten die helle Mittagssonne nicht ausstehen, die Wärme und das Licht machten sie schwach und verwundbar. Kein Trupp würde sie jetzt angreifen.
Malion schoss einen Feldhasen, den sie sofort häuteten, ausnahmen und über einem sehr gewagten Feuer brieten. Allerdings achteten sie darauf, nur sehr trockenes Holz zu verfeuern, um keinen Rauch zu erzeugen. Die Mittagssonne schien hell genug, sodass die Flammen auch nicht auffielen.
Mit der ersten warmen Mahlzeit seit Wochen im Magen, gingen sie mit frischer Energie weiter. Inzwischen waren es nur noch mehr oder weniger sanfte Hügel, die es zu überwinden galt, und der Marsch war nicht mehr so anstrengend.
Wäre die Bedrohung durch die Kwir nicht gewesen, hätte Lenoa wirklich gute Laune gehabt. Doch so trauten sie sich kaum, sich in normaler Lautstärke zu unterhalten.
Vielleicht waren ihre Sorgen unbegründet. Vielleicht hatten die Kwir sie längst verloren und irrten noch weiter Richtung Berge auf der Suche nach ihnen herum. Oder aber sie verfolgten sie, warteten nur auf die nächste Nacht, wenn die Reisenden ihnen klar unterlegen wären. Unwillkürlich beschleunigte Lenoa ihre Schritte ein wenig.
Auch bis zum Abend ließ sich kein Feind blicken. Hier, in den Ausläufern des Gebirges, waren mehrere Höhlenausgänge, doch sie begegneten auch keinem anderen Zwerg.
Sie waren weit von einem Wald entfernt, als die Sonne unterging, was bedeutete, dass sie nicht mehr auf die Bäume flüchten konnten. Allerdings kam mit der Dunkelheit nun auch die Angst wieder und sie wollten nicht bei Nacht weiterlaufen.
In einer geschützten Senke ließen sie sich nieder, das Gepäck legten sie gar nicht erst ab, die Hände lagen an den Waffen. In einem Kreis saßen sie beisammen, die wachsamen Blicke nach außen in die Nacht gerichtet. Wolken hatten sich vor die drei Monde geschoben und verdeckten die Sterne, was die Umgebung für Arian und Paradur ziemlich dunkel machte.
Als sich einige Stunden nach Sonnenuntergang die Erschöpfung breit machte, ließen sie immer zwei in der Mitte für einige Zeit schlafen, während der Rest weiter Wache hielt. Sie achteten darauf, dass immer zwei Inaari wach waren, denn Arsiena, Malion und Lenoa waren mit ihrer Nachtsicht im Vorteil.
Die Kwir waren Wesen der Nacht, der Dunkelheit. Der Schattenherrscher Daotan hatte sie erschaffen und so waren sie selbst aus den Schatten gemacht. Vor allem mit den von Wolken verdeckten Monden war es selbst für die Augen der Inaari'i beinahe unmöglich, die Kwir in der Nacht zu sehen. Sie bewegten sich mit den Schatten und waren unsichtbar, wenn es kein Licht gab.
Es war Lenoa, die zuerst alarmiert wurde. Hier in der Senke wehte kein Wind und so war auch Balyna verstummt. Sie sah wachsam auf, als in ihrem Brustkorb ein Wirbel entstand und aufgeregt hin und her zuckte.
Malion spürte wohl Lenoas Unruhe, denn er wachte auf und sah sich ebenfalls um. Die Monde waren nach wie vor verborgen hinter einer dunklen Wolkenschicht. Es war dunkel wie eh und je. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging. Ein schmaler, heller Streifen am Horizont kündete ihre Erlösung an.
Lenoas Finger tasteten nach einem Pfeil, sie legte einen an und hob den Bogen. Ihre Nachtsicht wurde langsam wieder nützlicher. Ihre Augen konnten Licht in der Dämmerung besser verstärken als die der Menschen, aber in einer undurchdringlichen Dunkelheit, wie die der letzten Nacht, gab es auch nichts, was sie reflektieren und verstärken konnten.
Doch es gab genug Schatten, in denen die Kwir sich hervorragend verbergen konnten.
,,Was ist?", flüsterte Paradur, der Lenoas Kampfbereitschaft alarmiert zur Kenntnis nahm.
,,Wir sind nicht allein", erwiderte Lenoa und machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu senken. Der Feind wusste ohnehin, wo sie waren.
Während Malion Arian unsanft aus dem Schlaf holte, schloss Lenoa die Augen. Die brachten ihr jetzt sowieso noch nicht viel. Wenn Kwir in den Schatten nicht gesehen werden wollten, waren sie nicht zu sehen. Der helle Streifen am Horizont war ihre einzige Hoffnung. Sie mussten die Kwir so lange zurückschlagen, bis die Sonne den Schatten die Kraft nehmen würde.
Sie konzentrierte sich auf ihre anderen Sinne. Ihre Finger, die die so vertraute Bogensehne spannten. Das kühle, glatte Holz des Pfeils zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger. Das geschnitzte Eschenholz des Bogens in der anderen Hand. Sie spürte den grasigen Boden unter ihren Füßen, ein kleines Steinchen drückte sich in ihre Schuhsohle. Sie spürte jeden einzigen Muskel ihres Körpers, spürte auch die Mängel, die ihre Reise dort hervorgerufen hatte.
Ihre Weggefährten, die ebenfalls ihre Waffen zogen. Sie hörte das unverkennbare Geräusch der sich spannenden Bogensehne von Malion, das leise, klackende Geräusch von Arsienas Pfeil, der sich an den Bogen legte. Sie hörte das Schleifen von Arians Schwert, das aus dessen Scheide gezogen wurde. Das leicht lederne Geräusch, als Paradur seinen Griff um seine Axt schloss.
Lenoa nahm den holzigen Geruch ihres Pfeils wahr, der an ihrer Wange lag. Sie roch den süßlichen Duft der Blumen, von denen einige um sie herum wuchsen, deren farbige Blüten nun aber von der Dunkelheit verschluckt wurden.
Sie spürte den Wind in ihr, Balyna, der die Müdigkeit aus ihrem Körper vertrieb, der sie kampfbereit machte. Sie spürte den Wind außerhalb, der langsam stärker wurde, der die Grashalme und Blumen gen Süden neigte.
Lenoa ließ all diese Wahrnehmungen auf sich wirken. Sie ließ sich davon leiten, lenkte die Pfeilspitze in die Richtung, von der sie nicht wusste, warum sie richtig war. Sie wusste lediglich, dass sie es war.
Sie hörte den verschnellerten Atem der anderen, spürte Malions Angst. Ihr Körper war angespannt, doch ihre Finger ganz ruhig, so, wie sie es brauchte.
Langsam öffnete sie die Augen wieder. Ihr Pfeil zeigte in dieselbe Dunkelheit wie zuvor. Der Streifen am Horizont wurde nur allmählich heller. Doch etwas sagte ihr, dass ihr Gefühl Recht behielt. Ohne zu zweifeln, ließ sie den Pfeil los und schoss ihn mit tödlicher Präzision in die Schatten.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...