11 - Der Fluss

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Mit dem Sonnenaufgang verschwand der Nebel und ließ den Tag mit ungewöhnlich kühler Luft und schwachen Sonnenstrahlen beginnen. Lenoa war froh über das Licht und die spärliche Wärme und sie wusste, dass Malion es auch war. Arsiena und Cyvas sahen jedoch noch besorgter aus und warfen immer wieder Blicke hinter sie und zu beiden Seiten.

Sie verließen die Hügel, die die Stadt Kla'zan umgaben, und ritten nun über Wiesen und durch kleine Wälder. Der Ostwind blies ihnen in den Rücken und bog die langen Grashalme in Wellen in Richtung Boden. Kleine Tiere huschten in den Wäldern durch das Unterholz, weiße, prächtig gefiederte Vögel staksten unter den Trauerweiden umher und beäugten die vier Reiter mit misstrauischen Blicken.

Doch trotz allem, war auch hier die wunderschöne Landschaft nicht von der Dunkelheit unberührt. Die Gräser waren nicht so grün, die Wälder nicht so lebendig, wie sie es im zweiten Jahresdrittel sein sollten. Am späten Vormittag ritten sie an einem Schlachtfeld vorbei. Hier war das Gras verdorrt und schwarz. Tot. Vermutlich der Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen Inaari und Kwir. Malion fand eine abgebrochene Klinge, die von den Inaari'i geschmiedet worden war, und einige schwarze Rüstungsteile der Schattendiener.

Lenoa wollte anhalten und der schwarzen Fläche Koryn wieder zu neuem Leben verhelfen, doch Arsiena drängte weiter. Noch immer war keinem klar, ob Daotan es spüren konnte, wenn sein Zeichen zerstört wurde, und sie waren sich einig, dass Lenoa keine Energie verschwenden durfte.

Kurz nach dem Sonnenhöchststand kamen sie an das Ufer des Gordams. Die Erde hier war feucht und die Pflanzen gediehen besser, als an sonst einem Ort auf ihrer bisherigen Reise. Der Fluss strömte azurblau und schnell vor ihnen gen Süden und Lenoa musste sich nicht anstrengen, um in dem klaren Wasser einige Fische und andere Wassertiere zu erkennen.

Sie und ihr Bruder wollten Rast machen und sich etwas ausruhen, aber Arsiena und Cyvas ließen sie nur ihre Trinkschläuche auffüllen und die Inyanza trinken, bevor sie wieder weiter drängten. Beide schienen nervös und warfen immer wieder angespannte Blicke über die Schulter und das Ufer hinauf und hinunter.

Arsiena und Cyvas trieben ihre Inyanza an einer Stelle ohne starke Strömung durch das  Wasser, das hier etwa bis zum Oberschenkel reichte. Malion folgte ihnen. Auch Lenoa saß wieder auf und lenkte Artholan auf das Wasser zu, doch das weiße Reittier scheute sich, eine Tatze in das kühle Nass zu setzen. Lenoa sprach ihm beruhigende Worte zu und versuchte es erneut, doch das Inyanza weigerte sich. Hätte es Krallen gehabt, hätte es diese sicherlich stur in den weichen Uferboden gegraben, doch diese Werkzeuge waren bei den Inyanza irgendwann im Laufe der Evolution verloren gegangen.

Es wunderte Lenoa, dass er sich so benahm, denn eigentlich war Artholan kein wasserscheues Inyanza und hatte kein Problem damit, durch Flüsse und Bäche zu waten. Schließlich stieg sie wieder ab und ging neben ihm her, eine Hand auf seinem weichen Hals, wo sie ihn beruhigend streichelte. Das Tier schien noch immer nervös und warf den Kopf immer wieder aufgebracht herum, doch Lenoa schaffte es, ihn durch den Fluss zu führen und am anderen Ufer wieder an Land zu begleiten, wo die anderen schon ungeduldig warteten. Lenoa schüttelte sich das Wasser von den Beinen und stieg wieder in den Sattel.

,,Wir müssen weiter. Kommt", sagte Arsiena angespannt und trieb ihr Inyanza Yaranliq wieder an, weiter nach Westen. Vor ihnen lag zum einen in einiger Entfernung der Wald Hendiryn, mit hohen, uralten Bäumen, zum anderen wurde das Gelände unübersichtlicher, steiler. Weiter nördlich ging es in die Berge über.

Lenoa wusste nicht, ob sie froh über die sanften Hügel und Anhöhen sein sollte. Einerseits tat es gut, nicht mehr so offensichtlich für alle Feinde über flaches Land zu reiten, andererseits hatten sie selbst auch weniger Übersicht über mögliche nahende Gefahren.

Es war Artholan, der Lenoa zeigte, dass etwas nicht stimmte. Obwohl sie inzwischen so weit entfernt vom Fluss waren, dass das strömende Wasser nicht mehr zu hören war, schien das Inyanza rastlos, wollte immer wieder in einen schnellen Trab verfallen, sodass Lenoa ihn zügeln musste, und warf den Kopf nervös von einer Seite auf die andere.

Angesteckt vom Verhalten des Tieres ließ auch Lenoa ihren Blick immer wieder über das Umland schweifen, über die Sträucher, zum Waldrand, zur nächsten Hügelkuppe.

Ein leises Sirren war alles, was sie vorwarnte, eine halbe Sekunde bevor der pechschwarze Bolzen an ihrem Ohr vorbei surrte und zwanzig Meter weiter in der Erde stecken blieb. Lenoa wirbelte auf Artolan herum, zog in der Bewegung ihren Bogen und schoss reflexartig auf die sich bewegenden Gestalten hinter ihr.

Ein Trupp von etwa einem Dutzend Kwir kam von Nordosten auf sie zu, einige mit schwarzen Breitschwertern, andere mit einer Armbrust bewaffnet, alle auf schwarzen, gleichermaßen seltsam und gefährlich aussehenden Reittieren. Arsiena, Cyvas und Malion sahen die Gefahr und trieben ihre Inyanza an. Lenoa preschte auf Artholan hinterher.

Alle vier schossen immer wieder Pfeile hinter sich, in den Trupp aus Schattendienern, doch die Hälfte von ihnen hatte Schilde dabei und schütze sich so. Lenoa beugte sich tief über den Hals Artholans, um den Pfeilen ihrer Gegner zu entgehen.

Sie stürmten auf den Waldrand zu, setzten dabei über kleinere Büsche oder Rinnsale, die die Landschaft durchzogen, hinweg. Im Wald wären sie besser geschützt, könnten die Bäume zu ihrem Vorteil nutzen.

Es war ein einziger Schuss, der diesen Plan zunichtemachte.

Lenoa warf einen Blick nach hinten und lehnte sich aus Reflex zur Seite, um dem auf sie zu rasenden Armbrustbolzen zu entgehen. Er streifte sie leicht an der Schulter und riss ihre Haut auf, nicht mehr als ein kleiner Kratzer. Das Geschoss wurde aus der Flugbahn geworfen, schlingerte und bohrte sich in die Flanke von Cyvas sandfarbenem Inyanza.

Das Tier knurrte vor Schmerzen, stolperte, fiel beinahe. Artholan war zu dicht dahinter, um noch zu bremsen, wollte instinktiv zur Seite ausweichen und trat dabei mit einer Pranke in eine kleine Mulde im Boden. Er knickte um und kam zum Stehen. Lenoa wollte ihn weiter antreiben, doch das Tier humpelte stark und konnte sich kaum auf allen vier Beinen halten.

Malion und Arsiena, die nun schon ein Stück voraus waren, bemerkten die Schwierigkeiten und kamen wieder zurück, schalteten die vordersten drei Kwir mit Pfeilen direkt in den Kopf oder die Brust aus. Sie fielen in sich zusammen und lösten sich in schwarzen Rauch auf, ihre Reittiere blieben ohne Herrn, der sie lenkte, reglos stehen. Doch noch immer waren vier Kwir unverletzt und bewaffnet.

Lenoa sprang aus dem Sattel, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, und musste sich sogleich unter einem Schwerthieb hinweg ducken. Zwei Kwir hatten sie erreicht, die anderen beiden gingen auf Cyvas los.

Die schwarze Klinge verfehlte Lenoas Kehle, fand aber ein anderes Ziel. Artholan bäumte sich auf, als das mit Widerhaken besetzte Schwert in seine Brust drang, und brach gleich darauf zusammen.

Geschockt starrte Lenoa auf das rote Blut, das aus der Wunde drang und das weiße Fell verklebte, bevor es eine Lache auf dem Boden bildete. Sie bemerkte gar nicht, dass Arsiena, noch immer auf ihrem Inyanza sitzend, die beiden Kwir niederschlug und Cyvas mit Malion die anderen beiden abwehrte.

Artholan scharrte mit den Tatzen am Boden, die Augen so weit aufgerissen, dass das Weiße zu sehen war. Lenoa war wie erstarrt, bewegte sich nicht.

Es war ohnehin zu spät.

Lange war es nicht, bis die Bewegungen immer schwächer wurden und schließlich der Körper ganz erschlaffte. Artholan lag reglos in der rot-feuchten Erde und, mit zitternden Nüstern, tat er seinen letzten Atemzug.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWo Geschichten leben. Entdecke jetzt