Lenoas Verstand sagte ihr, sie sollte umdrehen und warten, bis die anderen aufwachten - oder sie einfach gleich wecken. Ihr Gefühl wollte diesen Teil der Reise allein bestreiten.
Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Wasserwesen schwammen in Kreisen um sie herum, erzeugten Wellen von jeder Seite, die unter Lenoas Füßen kräuselnd zusammentrafen und sie trugen.
Doch weiterhin blieb Inzarn still und auch Balyna schwieg, was Lenoa ungemein beunruhigte. Trotzdem lief sie weiter, setzte einen Fuß vor den anderen.
Das leise Plätschern unter ihren Füßen schien sich zu Worten zu formen, ein sprudelnder Laut, wie die Stimme des Stammesführers. Sie brauchte einige Zeit, bis sie die Worte verstand.
Blaue Klinge. Blaue Klinge. Blaue. Klinge.
Der Name bestärkte sie, ließ sie mehr an sich glauben. Sie führte die Blaue Klinge. Sie war die Blaue Klinge.
Sie rettete Arlemia.
Die Strecke zur Insel Thelyn war noch länger, als es vom Ufer gewirkt hatte. Lenoa brauchte mehrere Minuten, um überhaupt zur Hälfte zu gelangen und sie lief nicht unbedingt langsam.
Die Wasserwesen passten die Wellen ihrer Geschwindigkeit an, ohne, dass sie darauf Rücksicht nehmen musste. Durch das kühle Türkis unter ihren Füßen fühlte sie sich verbunden mit diesen Wesen, mit dem Wasser und auf eine Art un Weise, die sie nicht verstand, auch mit dem Leben. Leise regte sich Balyna bei diesem Gedanken.
Das Ufer der Insel war hoch und erdig. Wurzeln hingen durch die Erddecke ins Wasser und ließen den Eindruck entstehen, als würde die Insel auf ihnen stehen. Doch Lenoa wusste es besser. Auf der anderen Seite musste sich Kies befinden, sonst hätte sie diesen ja kaum in ihrer Vision in Gla'zal gesehen.
Mit einem Schritt hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen und drehte sich für einen Moment zu den Wasserwesen um.
Kaorea, der Führer des Stammes der Alanarae, tauchte wieder auf. Er hielt seine seltsam geformte Waffe an die Stirn und streckte die Hände so aus, dass nur die Finger, die bei Lenoa Daumen und Zeigefinger wären, die Waffe hielten. Die anderen sieben spreizten sich davon ab wie die Strahlen einer Sonne, bläuliche Schwimmhäute spannten sich zwischen den Fingern.
Lenoa wiederholte diese seltsame Geste mit Inzarn und jedes der Wasserwesen um sie herum tat es ihr nach.
Deine Reise wird hier nicht enden, Blaue Klinge.
Kaoreas türkiser Blick durchbohrte sie regelrecht.
,,Aber sie wird um ein gutes Stück voran kommen'', flüsterte Lenoa. Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief weiter in die Mitte der Insel.
Die Bäume hier waren seltsam, hatten Blätter, die Lenoa in dieser Form noch nie gesehen hatte. Sie sah einen Strauch, dessen dreieckige Blätter von einem so dunklen Grün waren, dass sie fast schwarz wirkten.
Die saftig grünen Grashalme reichten Lenoa beinahe bis zum Knie und waren so dünn und seidig, dass sie die Berührung auf ihrer Haut kaum spürte.
Kein Fleck Koryn war zu sehen. Es war, als wäre diese Insel irgendwann in der Evolution stehen geblieben. Unberührt von Zwergen, Menschen, Inaari'i, sogar Schatten.
Lenoa stellte sich in die Mitte der Insel. Zwischen dem Strauch mit den fast schwarzen Dreiecken als Blätter und einem sehr schmalen Baum mit marineblauen Nadeln, die senkrecht nach oben gewachsen waren. Das seidige Gras stand still an ihren Beinen. Es wehte kein Wind. Balyna schwieg wieder.
Sie hatte sich oft ausgemalt, wie es sein würde. Wenn sie endlich hier stand, auf der Insel Thelyn. Sie hatte sich überlegt was sie tun wollte. Woran sie denken wollte. Was danach wäre.
Doch jetzt war sie ratlos. Es war windstill. Es war fast, als wäre Ma'kani in ihr verstummt. Als wartete dieser Teil von ihr auf den richtigen Augenblick. Der offensichtlich nicht jetzt war.
Mehr aus Unsicherheit, als aus wirklicher Gewissheit, versuchte sie, das Gefühl wieder aufzurufen, mit dem sie Koryn zerstören konnte. Eine leichte Brise kam auf, ließ die Grashalme um ihre Waden streichen und die blauen Nadeln neben ihr erzittern.
Mehr passierte nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und als sich eine Wolke vor die Sonne schob, wurde die Innenseite ihrer Augenlider schwarz.
Es brauchte einen Moment, bis sie bemerkte, dass es keine Wolke war und auch nicht die Sonne.
Schatten wabern um sie herum. Als sie die Augen öffnet, ist sie nicht mehr auf der Insel.
Schwarzer Nebel umgibt sie. Ein Gestalt kniet in der Dunkelheit, angsterfüllt, denn der Schattenherrscher ist nicht bekannt für seine Gnade. Erst recht nicht den Überbringern schlechter Nachrichten gegenüber.,,Sie ist erschienen'', flüstert der Bote. Der Schatten kristallisiert sich aus dem Nebel, eine makellos schwarze Rüstung, ein pulsierendes Schwert. ,,Wir kämpften gegen sie. Nur wenige konnten fliehen.'' Der Zwerg ist nun noch mehr von Panik erfüllt, doch er bleibt knien. Er muss dem Herrscher berichten.
,,Sie ist erschienen?'' Die Stimme durchzuckt ihn wie ein Schwert. So kalt, so wütend, so gefährlich. ,,Schickt alle Truppen auf die Suche. Der Schatten braucht ihren Kopf. Und er wird ihn bekommen.''
Der schwarze Nebel durchfährt den Überbringer der Botschaft und er sackt leblos zusammen. Die Dunkelheit breitet sich aus, überbringt ein Flüstern. ,,Tötet sie.''
Lenoa öffnete die Augen. Gras floss in sanften Wellen um sie herum. Sie kauerte an derselben Stelle wie vor ihrem kurzen Auflug in die Macht der balyna. Der Schatten suchte sie. Die Dunkelheit wusste, wer sie war.
Zitternd erhob sie sich. Wieder hatte Windstille von der Insel Besitz ergriffen. Langsam ging sie wieder zum Ufer, von dem sie kam. Von dort umrundete sie die Insel einmal.
Es war kein einziger Kieselstein zu finden. Von jeder Seite war die Insel erdig, am Ufer standen Bäume, die Wurzeln stabilisierten die Böschung. Da war kein Kies.
Sie kehrte in die Mitte der Insel zurück. Das Gras stand aufrecht und still. Lenoa legte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel.
Ihre Reise endete hier nicht.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...