Die nächsten Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate, wurden trostlos und unheilvoll. Jeder Tag war gleich, jede Woche dieselbe wie die letzte. Lenoa träumte beinahe jede Nacht von brennenden Städten, sterbenden Inaari, leidenden Menschen. Immer häufiger holten sie die Visionen auch tagsüber ein, dann musste sie jedes Mal länger Pause machen, bis sie wieder bei Kräften war. Auch das trug nicht dazu bei, dass die anderen sie mehr in die Gruppe aufnahmen. Obwohl sie so tat, als kümmerte es sie nicht, verletzte es sie. Sie konnte nichts dafür, Ma'kani zu sein. Die Visionen kamen nicht freiwillig. Dennoch machte sie weiter, als wäre nichts.
Es merkten inzwischen alle, dass die Tage dunkler und kürzer wurden. Der Schatten bekam immer mehr Macht. Irgendwann, inmitten dieser eintönigen Tage, kam der 2. Tag des letzten Jahresdrittels.
Keiner von ihnen dachte daran, es fiel ihnen nur irgendwann ein, dass der Tag inzwischen gewesen sein musste. Der 2. Tag des letzten Jahresdrittels war in ganz Arlemia ein Tag zur Trauer, besonders bei den Inaari'i. An diesem Tag hatte Daotan vor inzwischen 27 Jahren das Volk der Keranyr vernichtet und Arlemia dem Untergang geweiht.
Normalerweise war der dieser Tag, genauso wie der 15. Tag des zweiten Drittels - der Tag, an dem die Krone zerbrochen war - ein Tag der Trauer. In Gla'zal waren die Märkte geschlossen, kaum einer ging vor die Tür. Alynda hielt abends eine Rede vor der gesamten Stadt.
Für Lenoa und die anderen war praktisch jeder Tag ein Tag der Trauer. Endlose Berge erstreckten sich vor ihnen. Keiner sprach es aus, aber jeder wusste es: Sie hatten sich hoffnungslos verlaufen.
Sie waren der hohen Gebirgskette ausgewichen und durch den Taleinschnitt gewandert, in der Hoffnung, so dem hohen Aufstieg zu entgehen. Danach hatten sie sich östlich gehalten, um möglichst wieder auf die gleiche Höhe wie davor zu kommen.
Jeder Berg war gleich, jedes Tal sah identisch aus. Lenoa hatte das ungute Gefühl, dass sie keinen Meter weiterkamen. Auch, wenn sie jeden einzelnen Tag stundenlang wanderten und nur nachts länger als einige Minuten rasteten, schienen sie dem Ende des Gebirges nicht näher zu kommen.
Überall waren Berge, Berge, Berge. Lenoa verlor jede Hoffnung, noch rechtzeitig zur Rettung Arlemias zu kommen. Malion fühlte genauso, das spürte sie. Wegen der Mienen der anderen drei wusste sie, dass es auch ihnen nicht anders ging.
Malion und Paradur waren sogar zu niedergeschlagen und erschöpft, um noch zu streiten. Schweigend liefen sie nebeneinander her.
In einigen der grüneren Täler gab es Wild, ganz selten huschte ein Schneehase über einen Hang. Lenoa, Arsiena und Malion schossen aus Reflex auf alles, was sich bewegte. So hielten sie sich über Wasser.
Zu trinken gab es reichlich. Unzählige Flüsse, Bäche, Wasserfälle zogen sich durch die Landschaft, das Wasser war eiskalt und klar.
Zwerge begegneten ihnen kaum. Ab und an sahen sie einen Höhleneingang, aber sie machten jedes Mal sofort einen großen Bogen darum, aus Angst, die Aufmerksamkeit möglicher Wachen zu erregen.
Lenoa hatte immer gedacht, selbst, wenn sie sich verlaufen würden, die Sonne wäre immer noch ein sicherer Wegweiser, der sie nach Süden leiten würde. Doch je dunkler die Tage wurden, desto weniger kam auch die Sonne zum Vorschein. Oft war es tagelang bewölkt und wurde nie wirklich hell, und wenn dann das Wetter mal wieder umschlug, stellten sie fest, dass sie mehrere Tage in eine komplett falsche Himmelsrichtung gelaufen waren.
Lenoas Zustand wurde stetig schlechter, aber sie verbarg es vor jedem, außer Malion, der sie dafür viel zu gut kannte. Ihr Körper zehrte sich aus, sie bestand praktisch nur noch aus Haut, Sehnen und Knochen.
Die seltenen Male, in denen sie ihr Spiegelbild in einem Bach oder Teich betrachtete, erschrak sie jedes Mal vor sich selbst. Ihr Gesicht schien kantiger geworden zu sein, ihre Wangenknochen traten stärker hervor. In ihren eigenen Augen lag ein Ausdruck, den sie weder deuten konnte, noch wollte.
Jeden Abend merkte sie, dass die Kräfte sie verlassen hatten. Sie konnte nicht mehr. Trotzdem machte sie weiter.
Was sie antrieb, war Balyna. Diese Brise schien unermüdlich zu sein, unzerstörbar. Sie trieb Lenoa an, brachte sie dazu, jeden Tag aufzustehen und jeden Tag einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Trotzdem: Es war hoffnungslos. Sie würden nie aus diesen Bergen hinausfinden. Und wenn, würde Daotan schon längst die Herrschaft über Arlemia haben. Wenn er das nicht schon längst hatte.
Nein, sagte eine leise Stimme in Lenoa. Das wüsste sie. Dann wäre der Wind in ihr abgeflaut, es gäbe nichts mehr, was sie antrieb. Noch gab es Hoffnung.
Wäre da nicht dieses endlose Gebirge.
Einige Male mussten sie sich verteidigen, gegen einen Bären, einen einzelnen Bekra. Eine traurige Abwechslung zu den restlichen Tagen, bei der Lenoa nur noch mehr bewusst wurde, wie sehr ihr Körper litt.
Einmal zitterten ihre Finger so stark, dass sie einen Pfeil nicht traf, den jeder Merakyr in seinem Ziel versenkt hätte. Danach hielt sie sich mit dem Bogenschießen zurück. Zu hoch war das Risiko, einen der wertvollen Pfeile bei einem misslungenen Schuss zu verlieren.
Einmal wäre Malion fast in den Tod gestürzt. Sie wanderten gerade an einem schmalen Grat entlang, als sich einige Steine unter seinem Fuß lösten und mehrere hundert Meter in die Tiefe rollten. Malion konnte sich nur halten, indem er sich an Arian festklammerte und beinahe wären beide gestürzt. Lenoa und Arsiena halfen ihnen wieder zu einem festen Stand.
Danach liefen sie um einiges vorsichtiger weiter. Auch, wenn Lenoa das ungute Gefühl nicht loswurde, dass das nur eine Warnung gewesen war.
Vielleicht sollten sie einfach alle sterben. Zur Rettung Arlemias würden sie ohnehin nicht mehr rechtzeitig kommen. Das Land unter Daotans Hand wollte sie sich nicht vorstellen und erst recht nicht erleben. Trotzdem ging Lenoa weiter. Sie stand morgens auf, sie schlief abends ein.
Nur selten blieben sie länger als eine Nacht an einem Ort. Sie wollten nicht entdeckt werden und mussten weiter. Einmal stolperte Lenoa so ungünstig über eine Wurzel, dass sie sich den Knöchel verstauchte. Nach zwei Tagen war die Verletzung verheilt und sie konnten weitergehen.
Weitergehen. Das war alles, was Lenoa und die anderen taten. Tat für Tag, Woche für Woche. Sie hatten keinerlei Zeitgefühl mehr. Jeder Tag war genauso wie der Vorherige.
Irgendwann nahm Lenoa nicht einmal mehr die Umgebung wahr. Zu Beginn hatte sie sich an der wunderschönen Aussicht erfreut, an den schneebedeckten Gipfeln und den grünen Hängen, an den bewaldeten Tälern und den rauschenden Wasserfällen.
Nun ging sie daran vorbei, ohne auch nur den Blick von ihren Füßen zu nehmen. Es war, als würde ihr Körper sich ganz danach ausrichten, das Ziel zu erfüllen.
Das Ziel. Arlemias Rettung. Oder war es nur das Ende dieses Gebirges zu erreichen? Lenoa wusste es nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass sie keine unnötige Energie auf etwas anderes verschwenden durfte.
Nicht auf Freude an der schönen Umgebung. Nicht auf Erleichterung, wenn sie sich abends hinlegen konnte. Nicht auf Gespräche.
Die anderen unterhielten sich noch ab und zu, doch Lenoa enthielt sich der Konversationen. Die wenigen Male, bei denen sie einige Worte sagte, klang ihre Stimme rau und beinahe fremd.
Es war einer der wenigen sonnigen Tage. Sie durchquerten ein grünes Tal, den Weg direkt nach Süden einschlagend. Lenoa ging an der Spitze der Gruppe, den Bogen bereit, um mögliches Wild sofort abschießen zu können.
Die Sonne ließ sie sich beinahe ein wenig besser fühlen. Sie konnte sich sogar wieder daran erinnern, wie es sich anfühlte, gut gelaunt zu sein. Am Morgen war es ihnen gelungen, einige Fische zu fangen und so hatte sie einen vergleichsweise vollen Magen.
Als es im Gebüsch raschelte, dachte Lenoa instinktiv an ein Reh oder ähnliches und richtete ihren Pfeil auf den Abschnitt im Unterholz. Sie war nicht vorbereitet auf die pechschwarze Klinge, die sich zwischen den Ästen eines lila blühenden Strauches hervorschob.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...