Die Welt verstummte.
Alles wurde blass.
Die Erleichterung über die aufgehende Sonne blieb aus. Lenoas Beine gaben nach und sie fiel auf die Knie. Irgendjemand tötete den Zwerg, der in sich zusammensackte. Die Axt fiel mit ihm zu Boden.
Malion schien für mehrere Sekunden in der Schwebe zu sein. Vielleicht war es auch nur ein Herzschlag. Dann brach er zusammen. Die Sonnenstrahlen erhellten Lenoas Gesicht und blendeten sie, doch sie verschwendete keinen Gedanken daran. Ihr Blick richtete sich auf die reglose Gestalt am Boden.
Sie hörte nichts. Sie spürte nichts. Irgendwie gelang es ihr, sich zu ihrem Bruder vorzuarbeiten. Ihre Finger waren taub, als sie Malions Körper umdrehte.
Auf seinem Gesicht lag ein erschrockener Ausdruck. Seine Augen blickten an Lenoa vorbei in den Himmel.
Die Wolken rissen langsam auf. Der Nebel verzog sich. Die Sonne schien.
Aus Lenoas Kehle brach ein Schrei hervor. Sie erschrak sich vor sich selbst, gleichzeitig wusste sie nicht mehr, wie man Gefühle empfinden konnte.
Ein Teil ihres Herzens war abgebrochen und verkümmerte in der aufgehenden Sonne. Der Teil, der mit Malion verbunden gewesen war. Der Teil, der seine Gefühle empfunden hatte. Jetzt war dort nur noch Leere.
Von vorne hatte Malion nur einen kleinen Kratzer in der Brust, doch Lenoas Hand in seinem Rücken wurde warm und klebrig. Das Blut breitete sich über ihre Beine aus, färbte das Gras unter ihr dunkel und durchnässte die Erde.
Der Schrei verebbte. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Sie lechzte nach Wasser und konnte sich doch nicht bewegen.
Sie hatte ein Pochen im Ohr. Ihren Blick konnte sie nicht von den leeren, starrenden Augen ihres Bruders lösen. Mit zitternden, tauben Fingern strich sie ihm über die Lider und schloss sie. Wären da nicht die fehlenden Grübchen gewesen, hätte er jetzt fast so ausgesehen, als würde er schlafen.
Lenoa beugte sich näher über ihn. Ihre Haare fielen ihm ins Gesicht, malten schwarze Kreise über seine blasse Haut. Gleich würde er aufwachen und über das kitzelnde Gefühl lachen. Dann würde er sich über Lenoa beschweren und sie an den Haaren ziehen. Er würde aufstehen, vor ihr wegrennen und sie würde ihm nachlaufen. Gleich. Sie musste ihn nur aufwecken.
Er wachte nicht auf.
Sie wusste das. Sie wusste, dass er nicht aufwachen würde. Dass er nicht lachen würde. Nie wieder. Ein Wort erschien in ihrem Kopf. Eines, das sie nicht denken wollte. Eines, das sie denken musste.
Tot. Malion war tot. Ihr Bruder war tot. Ihr engster Vertrauter war tot. Im Rhythmus des Pochens in ihrem linken Ohr erschien das Wort in ihren Gedanken. Tot. Tot tot tot.
Langsam ließ das Geräusch in ihrem Ohr nach. Sie hörte Stimmen um sich herum. Wie konnten sie jetzt reden? Wie konnten sie sich unterhalten? Malion würde nie wieder mitsprechen können. Nie wieder. Tot.
Lenoas umnebelter Verstand brauchte lange, bis er begriff, dass die Stimmen sich stritten. Es waren laute, harsche Worte, von mehreren Personen, deren Verständnis zu viel für ihr Bewusstsein waren. Sie konnte nichts anderes tun, als auf die leere Hülle zu starren, die einmal ihr Bruder gewesen war.
Jemand berührte sie an der Schulter. Lenoa fuhr herum, doch es war nur Arian, der sich zu ihr nach unten lehnte und ihr eine Hand anbot. ,,Du kannst nichts mehr für ihn tun, Lenoa", sagte er leise.
Seine ruhige, einfühlsame Stimme drang durch den Nebel in Lenoas Geist zu ihr. Du kannst nichts mehr für ihn tun. Wie endgültig sich das anhörte. Nichts mehr für ihn tun. So endgültig war es doch gar nicht. Nichts mehr. Für ihn tun.
Das Zittern in Lenoas Fingern breitete sich aus, bis sich ihr ganzer Körper unkontrolliert schüttelte. Malion rutschte von ihren Beinen ins Gras. Ihre Haut war überzogen von seinem Blut.
Gerade noch rechtzeitig konnte sie den Kopf zur Seite drehen, dann übergab sie sich auf die blutbespritzte Erde. Arian stützte sie, bis sie sich wieder aufrichtete und über den Mund wischte.
Du kannst nichts mehr für ihn tun, hatte Arian gesagt.
Lenoa fühlte sich zerbrochen. Ihr so mühsam aufgebautes Selbstbewusstsein floss in einem so stetigen Strom aus ihrem Herzen, wie das scharlachrote Blut aus Malions Körper.
Sie war Ma'kani. Sie war auserwählt, ganz Arlemia zu retten. Wie lächerlich das war. Sie konnte ja nicht einmal ihre Familie retten.
Ein kleiner, vernünftig gebliebener Teil von ihr bemerkte, dass jemand mit ihr sprach. Arian. Der Mensch redete auf sie ein. Beruhigend. Die Worte verstand sie nicht.
Ein anderer Teil von ihr nahm wahr, dass der Wind abgeflaut war. Es herrschte absolute Windstille. Lenoa fand das gut. Ihr Bruder war tot. Sein Leben hatte genauso wie die Bewegung der Luft ein Ende gefunden. Zu früh. So viel zu früh.
Etwas in ihr wünschte sich, weinen zu können. Tränen waren ein Zeichen der Trauer. Tränen opferte man für seine Liebsten. Lenoa wollte Tränen für Malion vergießen. Das konnte sie noch für ihn tun.
Jemand hatte ihr einmal erzählt, Tränen seien ein Zeichen der Schwäche. Menschen weinten. Menschen waren schwach. Wer hatte ihr diese Lüge erzählt? Ganz sicher Alynda. Ihr Vater würde nie solche abwertenden Dinge sagen.
Ihr Vater. Ein weiteres Mal wünschte sie sich eine menschliche Eigenschaft. Der Glaube. Sie würde so gerne daran glauben, dass die beiden nun wieder vereint waren. Im Himmel. Dass sie selbst irgendwann zu ihnen kommen würde.
,,Lenoa." Jemand sagte ihren Namen. Mit Mühe kämpfte sie sich wieder in die Realität. Ihre Hände zitterten noch immer. Sie spürte ihre Beine nicht mehr. Ihr Kopf war schwer.
,,Lenoa." Das war Arsiena. Vorsichtig drehte sie den Kopf. Die Inaari kniete neben ihr, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. ,,Ich weiß, du trauerst. Aber wir müssen etwas besprechen."
Etwas besprechen. Was konnte so wichtig sein? Wichtiger als Malion? Als sein Tod? Nichts. Lenoa wollte nichts besprechen. Sie wollte hierbleiben. Bei ihrem Bruder.
,,Er ist tot." Ihre Stimme klang fremd. Tiefer. Rauer. Jetzt war es endgültig. Sie hatte es ausgesprochen. Es war keine Sache mehr zwischen ihm und ihr. Er war wirklich tot.
Sie konnte nichts mehr für ihn tun.
,,Ja", sagte Arsiena sanft. ,,Er ist im Kampf gestorben, um einen Freund zu retten."
Ein Freund. War es ein Freund, wenn er schuld an Malions Tod war? Lenoa drehte ihren Kopf zu Paradur. Schwindel erfasste sie, ließ schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen.
Ihr Körper war in Bewegung, noch bevor sie wieder klar sehen konnte. Sie kniete nicht mehr neben der Leiche ihres Bruders. Ihre Finger hatten sich um eine Waffe geschlungen, sie klammerte sich daran fest. Die Axt, an der Malions Blut klebte. Sie stürzte auf denjenigen zu, der Schuld daran trug.
Paradur. Malion hatte ihn gewarnt und war deswegen gestorben. Paradur lebte. Malion nicht. Er hatte das nicht verdient.
Jemand rief ihren Namen, jemand wollte sie packen. Sie ließ sich davon nicht beirren. Die schwarzen Punkte in ihrem Gesichtsfeld verschwanden wieder.
Paradur stand direkt vor ihr. Seine Axt hatte er in der Hand, doch sie war nicht auf Lenoa gerichtet. Die blutige Klinge lag an der Kehle eines anderen Zwerges. Des einzigen anderen Zwerges, den Lenoa bei Namen kannte.
Kelmor.
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Ma'kani - Auserwählte der Inaari'i
FantasyArlemia. Ein Land, mehrere Völker, und ein Schatten, der sie alle bedroht. Seit die Krone der Inaari'i zerbrochen ist, kommt der Schatten immer näher. Bäume verdorren, Gräser verfaulen. Tage werden kürzer, dunkle Nächte immer länger. Der Tod ist u...