Unwiderstehlich

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Kapitel 21

Belle

Als Dimitri frei war, warf ich meinem Vater noch einen vernichtenden Blick hinterher, während er sich mit einer lässigen Geste aus dem Trainingsraum verabschiedete, zusammen mit Cassian und den anderen Männern, die hier mit Dimitri angeblich trainiert hatten. Wenn ich mir die verschwitzen männlichen Körper so ansah, könnte man eher glauben, sie hätten einen unfreiwilligen Marathon hinter sich.

Manchmal wusste ich wirklich nicht mehr, ob ich meinen Vater liebte oder eigentlich hasste. Dieser Mann hatte schon immer über das sagenhafte Talent verfügt, mich immer wieder an meinem familiären Sinn zweifeln zu lassen. Das heute war also keine Ausnahme. Dennoch wusste ich, dass er das alles aus Liebe zu mir tat. Einer so innigen Liebe, dass er mich lieber unglücklich sehen würde, als mich tatsächlich in Gefahr zu bringen und so eine Liebe musste man einfach wertschätzen. Denn das war es, was ich als bedingungslose Liebe verstand. Er tat das, was er glaubte, für mich tun zu müssen, damit es mir gut ging. Selbst wenn das bedeutete, meinen Zorn zu riskieren. Er hatte mehr Angst davor, dass mir etwas geschah, als dass ich irgendwann die Nase voll von seinen Spielchen hatte und mich von ihm abwandte. Dieses Risiko trug er immer mit sich herum und es war das uneigennützigste, was er je für mich tun könnte.

Bei meiner Mutter allerdings war es nicht ganz so einfach. Wenn sie ihm jemals verließ, würde es etwas in ihm zerstören, dass ihn unweigerlich durchdrehen ließ. Solange ich zurückdenken konnte, war mir immer klar gewesen, dass das zwischen ihnen keine Liebe war. Nicht wirklich. Sie liebten mich absolut bedingungslos, aber die Gefühle für den jeweils anderen gingen tiefer. Sie existierten für einander und wegen einander.

Würde meine Mutter ernsthaft versuchen, von ihm wegzukommen – oder anders herum – würde mein Vater sie für diesen Verrat umbringen und meine Mutter würde nicht weniger brutal handeln. Und hätte erstmal Einer den Anderen ermordet, würde der hinterbliebene den Freitod wählen. Sie würden zusammen leben und sterben. So sah ihr Ende aus und nichts daran war wirklich beneidenswert.

Mein Vater war ein manipulativer Mistkerl und meine Mutter eine tickende Zeitbombe, eine wahre Psychopathin. Warum ich nicht einmal den Ansatz tatsächlicher psychotischer Züge zeigte, verwunderte mich selbst regelmäßig. Aber es war nicht schwer, meine Außenwelt davon zu überzeugen, dass ...

„Belle", forderte Dimitri meine Aufmerksamkeit und ich sah zu dem Mann herauf, der für mich die Welt war.

Ich war nicht wie meine Eltern. Wenn es Dimitri glücklich machte würde ich ihn gehen lassen – vielleicht. Denn so etwas tat man, wenn man jemanden liebte. Bedienungslos, so wie mein Vater mich liebte.

Dennoch hatte ich furchtbare Angst Dimitri zu verlieren. Selbst jetzt, wo er vor mir stand. So schön wie der russische Winter. Erbarmungslos und bereit das höchste Gut von jemanden einzufordern, aber nicht böse oder kalt. So war Dimitri nicht, nicht wirklich. Auch wenn er ein Monster sein konnte. Ein Mann, der andere töten musste, weil er dazu seit seinem ersten Atemzug getrieben worden war. Das Morden war für ihn so natürlich wie das atmen und ich wusste, dass dies immer ein gewisses Problem sein würde. Noch kam es mir entgegen, aber wie lange würde das anhalten?

„Blut", sagte er in seiner typischen Einsilbigkeit und instinktiv fasste ich mir an die Lippen und als ich das Rot an meinen Finger sah, drehte sich mir der Magen um.

Eine Welle der Übelkeit überkam mich. Schnell flüchtete ich zur Wand und erbrach mich dort unter lautem Würgen und heftig schmerzendem Magen. Dimitri war bei mir, holte ein paar Handtücher von einer spartanischen Bank und eine Plastikflasche mit Wasser, die ebenfalls da gestanden hatte. Ich würgte noch, als er mir Beides hinhielt und ich bemühte mich darum, meinen Brechreiz wieder unter Kontrolle zu bringen.

Ich hasste es, dass mir wegen Blut schlecht wurde und wusste sehr wohl, dass dies einzig und allein mein Kopf auslöste und keine tatsächlichen körperlichen Ursachen hatte. Es war psychosomatisch und das ich diese Schwäche nicht unter Kontrolle bekam, nervte mich. Das ich es in manchen Situationen sogar schaffte Messer abzulecken und Menschen die Haut abzuziehen, machte es nur noch schlimmer. Das konnte ich nur, wenn ich durchdrehte. Wie bei Carl oder wie gerade bei Cassian. Das dieser Mistkerl mich geküsst hatte und ich nicht dazu in der Lage war ihn abzuwehren, hatte mich rasend gemacht, wie in dem Moment, als Dimitri angegriffen wurde. Ich musste also mich erst selbst verlieren, um Blut ertragen zu können. Wie peinlich und absolut inakzeptabel.

Ich wischte mir den Mund ab und drehte mich von meinen Erbrochenen weg, damit mir von dem Anblick und dem Geruch nicht wirklich noch schlecht wurde. Dann nahm ich die Wasserflasche von Dimitri an und lief in Richtung der Toilette.

Er folgte mir, so wie er mir immer folgte und wartete geduldig im Türrahmen bis ich mir den Mund ausgespült und etwas von dem Wasser in der Flasche getrunken hatte. Dann kramte ich im Unterschrank nach eine Zahnbürste und Zahnpasta. Meine Mutter hatte in dieser Gästetoilette so einiges vorrätig. Von einem Haufen Verbänden und Frauenhygieneartikelen über Bleichmittel, Messer und – cool – eine Baretta 90 two mit neun Millimeter Patronen, die werden seit 2006 in Italien hergestellt und sind so gut wie wartungsfrei. Perfekt um sie irgendwo zu lagern wie, na ja, unter einem Waschbecken.

Ich ignorierte die Pistole und griff weiter nach hinten und holte den Zahnputzbecher hervor mit samt einer noch eingeschweißten Bürste.

Als ich wieder hochkam, stand Dimitri so dicht hinter mir, dass ich nicht anders konnte, als mich an ihn anzulehnen. So standen wir eine Weile vor dem Waschbecken, während ich mir die Zähne putzte und dann wieder etwas von dem Wasser trank. Dann senkte sich sein Kopf von hinten genau in die Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter.

„Ich verstehe es.", verriet er mir und ich ließ meine Hand durch seine wundervollen Haare gleiten. Manchmal konnte ich es kaum fassen, dass jemand, der so zum Tier erzogen wurde wie er, so schön, so attraktiv, sein konnte. Es war unfair für den Rest der Welt aber für mich die Bestätigung, das ich in meinem Leben irgendwann einmal etwas sehr richtig gemacht hatte. Er war ein gefallener Engel der mir zu Diensten war und ich liebte es.

„Dein Vater ist ein Monster mit einer Menschenhaut", sagte er und ich war wieder einmal fassungslos wie viel Dimitri in seinen wenigen Worten ausdrücken und erfassen konnte. Er war nicht dumm, das war er nie gewesen. Die Art wie er dachte war nur anders und obwohl viele Menschen in ihm nicht mehr als einen Hund sahen, sah ich die Tiefsinnigkeit seiner Worte. Ich wusste, was er meinte, aber nicht worauf er hinaus wollte. Es war schwer ihm zu folgen, aber ich wurde von Mal zu Mal besser darin.

„Das sind alle Menschen. Bei Einigen ist das Kostüm nur besser oder sie wollen es nicht wahrhaben, dass es nur ein Kostüm ist." erklärte ich ihm und schob meine Finger in seinen Nacken, wo ich die kräftigen Muskeln unter seiner Haut spüren konnte. Dieser Mann war unwiderstehlich und ich war kurz davor mich zu ihm umzudrehen, damit ich ihn besser berühren konnte.

„Kostüm? Wie bei Halloween?", fragte er und ich musste lächeln. Er war wundervoll. Besäße er nicht diese einschüchternde Statur und hätte nicht diese Fähigkeit jemanden innerhalb von Sekunden mit bloßen Händen zu töten, könnte man ihn fast als niedlich bezeichnen.

„Ja. Man verkleidet sich. Versteckt das Monster darunter" sagte ich und als er den Kopf hob und mich verwirrt ansah, musste ich mich einfach umdrehen.

„Aber bei Halloween versteckt man doch den Menschen unter dem Monsterkostüm", brachte er an und noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, stellte ich mich auf die Zehnspitzen und küsste ihn. Einfach unwiderstehlich.

Beta: Geany

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