Kapitel 31

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"Fräulein Tessa?", erkundigte sich Mr. Smith vorsichtig. "Geht es Ihnen gut? Sie sehen auf einmal so blass aus."

Irritiert blickte Tessa in die sanften Augen des Bibliothekars. Mit schwitzigen und zittrigen Händen klappte sie das Buch zu und hielt es Mr. Smith entgegen. Mit einem gequälten Lächeln antwortete sie: "Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit. Einen schönen Abend noch."

Mit diesen Worten drehte sie sich um und beeilte sich die Bibliothek so schnell wie möglich zu verlassen. Sie hatte das Gefühl jemand würde ihr die Kehle zudrücken und die Wände des Gebäudes kämen immer näher um sie zu erdrücken. Mr. Smith rief ihr noch etwas hinterher, aber das konnte sie nicht mehr verstehen. Es tat ihr Leid, dass sie ihn so stehen lies. Aber sie brauchte dringend frische Luft. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie konnte nicht glauben was sie da gerade in diesem Buch gesehen hatte.

Mit aller Kraft stieß sie die Tür der Bibliothek auf und trat nach draußen. Es war mittlerweile dunkel geworden und tiefer Nebel hing zwischen den Straßen. Tief sog sie die kalte Luft in ihre Lungen ein. Das wiederholte sie ein paar Mal, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte.

In Tessas Kopf blitzten Erinnerungen auf. Erinnerungen des Abends, an dem sie gemeinsam mit Denny in Samuels Haus eingebrochen waren. In ihren Gedanken war sie wieder im Kaminzimmer des Hauses. Sie konnte die Ohrensessel und den Kamin vor sich sehen. Dort fanden sie die Handtasche von Lisbeth. Tessa konnte sich aber noch an etwas anderes erinnern, was sie in diesem Zimmer gesehen hatte. Damals hatte sie dem jedoch keine Bedeutung gegeben.

In ihren Gedanken drehte sich Tessa nach links um und suchte die gläserne Vitrine im Raum. Damals stand sie vor dieser Vitrine und hatte sich gewundert, wieso Samuel drei - offensichtlich wertlose - Gegenstände mit einem Vorhängeschloss wegsperrte. Jetzt kannte sie die Antwort.

Sie rief sich die drei Gegenstände noch einmal in Erinnerung. Ein goldener Kelch, ein silberner Armreif und ein schwarzer Dolch. Genau diese drei Gegenstände hatte sie gerade in dem Buch von Mr. Smith gesehen. Die drei Gegenstände, die angeblich von einer bösen Hexe erschaffen wurden, um einem Volk von geheimen Wesen, die Freiheit zu nehmen.

Tessa schüttelte den Kopf. Nein. Das war sicher nur ein Zufall. Es war nur eine Legende, ein Märchen, mehr nicht. Samuel war Autor. Sicher wusste er auch von dieser Legende und ihm gefiel sie so gut, dass er beschloss über Ebay Kleinanzeigen Fanartikel zu bestellen. Millionen von Menschen taten das auch. Mit Fanartikeln von Harry Potter oder Der Herr der Ringe ließ sich viel Geld machen. Wieso nicht auch mit diesen?

Tessa beantwortete sich die Frage selbst. Wenn dieses Märchen so bekannt wäre, dann hätte sie sicher schon davon gehört. Sie gab sich einen Ruck und versuchte der Idee, die sich in ihrem Kopf formte, eine Chance zu geben. Auch wenn sie verrückt klang.

Alles passte zusammen. Lisbeths Verschwinden, die Handtasche die bei Samuel gefunden wurde und jetzt die drei verfluchten Gegenstände, die Heiligtümer. Was, wenn Samuel der Besitzer der Heiligtümer war und somit Herrscher über das geheime Volk der Wesen? Es ergab alles einen Sinn. Er hatte sich irgendetwas von den Wesen gewünscht und diese forderten ihren Anteil ein, die Gedanken und Erinnerungen von Menschen. Samuel tat es seinem Vorfahr nach und entführte Menschen. Er hatte Lisbeth entführt und die anderen Opfer die vorher verschwanden, die gingen garantiert auch auf sein Konto.

Nervös und die Hände zu Fäusten geballt lief sie auf und ab. Was sollte sie jetzt bloß tun? Irgendetwas stimmte hier nicht. Das war ihr klar. Aber war es tatsächlich möglich, dass hier ein geheimes Volk von irgendwelchen Wesen am Werk war? Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden. Sie beschloss ihre Gedanken mit Denny zu teilen.

Ein Blick auf ihr Telefon reichte aus um ihr zu zeigen, dass sie mal wieder viel zu spät dran war. Tatsächlich war sie heute Abend mit Denny verabredet. Bevor sie sich jedoch zu ihm auf den Weg machen wollte, schlug sie den Weg in Richtung ihres Appartements ein. Sie musste sich dringend umziehen und vorher duschen gehen. Sie hatte das Gefühl, als hinge der ganze Staub der alten Bücher aus der Bibliothek in ihren Haaren.

Etwas außer Atem schloss Tessa ihre Wohnungstür hinter sich. Dass sie mittlerweile zu spät zu ihrer Verabredung mit Denny kam war ihr bewusst, jedoch wollte sie ihn nicht allzu lange warten lassen. Und so ist sie die halbe Strecke von der Bibliothek zu ihrem Appartement gejoggt.

Während das warme Wasser ihre Haare durchnässte, ließ sie noch einmal ihre Gedanken kreisen und versuchte sich auszumalen, ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gab, als diese filmreife Vorstellung von geheimen Wesen. Sicher gab es noch dutzende andere Möglichkeiten.

Lisbeth hatte ihre Handtasche vielleicht wirklich nur bei Samuel vergessen und er hatte rein gar nichts mit ihrem Verschwinden zu tun. Und dass Samuel in so kurzer Zeit eine ganze Trilogie veröffentlichte, lag vielleicht daran, dass er tatsächlich ein begnadeter Autor war.

Egal wie Tessa es drehte und wendete. Irgendetwas stimmte nicht. Als sie schließlich mit geföhnten Haaren aus der Tür trat, beschloss sie, bei ihrem Plan zu bleiben und Denny von allem zu erzählen was sie heute erfahren hatte. Sie wollte seine Meinung hören, vielleicht fiel ihm eine logischere Erklärung für alles ein.

Die kalte Luft packte Tessa und sie schlang sich ihre Arme um den Körper und machte sich auf den Weg zu Denny.  Der Nebel war immer dichter geworden. Das Licht der Straßenlaternen war kaum noch zu erkennen. Die die weiter weg auf ihrem Weg standen konnte sie gar nicht sehen. Nur die, die unmittelbar vor ihr lag. Und auch das Licht dieser Straßenlaterne schimmerte nur schwach durch den Nebel.

Die Straßen waren leer, beinahe schon unheimlich. Aber bei der Kälte die aufkam, konnte Tessa verstehen weshalb niemand unterwegs war. Auch sie konnte es kaum erwarten ihr warmes Ziel endlich zu erreichen.

Sie hörte, wie sich von hinten ein Auto näherte. Es bremste ab und als Tessa zur Seite blickte, sah sie, wie ein Auto direkt neben ihr hielt. Die Scheiben waren im hinteren Teil des Wagens dunkel getönt. Sie konnte also nicht erkennen wer sich auf dem Rücksitz befand. Bestimmt hatte sich der Fahrer verfahren. Bei dem Nebel war das auch kein Wunder.

Der Fahrer des Wagens hatte einen Mantel mit hochgeschlossenem Kragen an. Die Kappe auf seinem Kopf ragte ihm tief ins Gesicht. Als die Scheiben automatisch heruntergefahren wurden, erkannte Tessa, dass der Fahrer eine Sonnenbrille trug. Das war seltsam, bei diesem Nebel brauchte man alles andere als eine Sonnenbrille. Sie überkam ein mulmiges Gefühl. Doch genau in dem Moment, in dem sie wieder ein paar Schritte zurücktreten wollte packte der Fahrer sie am Arm.

Tessa schnappte nach Luft. Der Fahrer zog sie so heftig zu sich heran, dass sie mit ihrem Brustkorb gegen die Tür des Autos knallte. Durch den Aufprall blieb ihr die Luft weg und sie konnte nicht um Hilfe schreien. Im letzten Moment konnte sie noch erkennen, wie ihr der Fahrer ein Tuch auf den Mund presste.

Dann wurde alles schwarz...

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