Kapitel 17

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Am nächsten Morgen fühlte sich Tessa wie gerädert. Sie hielt die Augen geschlossen, sie wollte noch ein wenig in ihrer Traumwelt bleiben. Der alltägliche Wahnsinn würde sie noch früh genug einholen. Die Sonne strahlte in ihr Zimmer und wärmte ihr Gesicht. Erst als es Tessa zu warm wurde, öffnete sie die Augen. Es kam ihr merkwürdig vor, dass die Sonne bereits am frühen Morgen solch eine Kraft hatte, noch bevor ihr Wecker klingelte. Sie tastete auf ihrem Nachtschrank nach ihrem Smartphone. Als sie die rechteckige Form des Gerätes fühlte, schloss sie ihren Griff darum und hielt sich das Display direkt vor das Gesicht.

Erschrocken setzte sich Tessa in ihrem Bett auf. Es war bereits nach elf Uhr! Die Vorlesungen waren beinahe vorbei, sie würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen sich fertig zu machen und zur Uni zu hasten. So ein Mist! Sie musste so tief geschlafen haben, dass sie den Wecker einfach ausgeschaltet hatte, ohne es zu merken. Tessa warf ihr Smartphone vor sich auf die Decke und ließ sich in ihr Kissen zurücksinken.

Frustriert starrte sie an die Decke. Hoffentlich wurde in keiner Vorlesung etwas über die Prüfungen erwähnt. Sie konnte es sich nicht leisten durch eine Prüfung durchzurasseln. Und seit sich ihr Buch so gut verkaufte war Tessa immer öfter unterwegs. Mit dem Zug oder Bus fuhr sie in Buchläden in der Umgebung um ein paar Seiten aus ihrem Roman vorzulesen. Anschließend signierte sie die mitgebrachten Exemplare der Zuhörer. Der Spagat zwischen Studentin und Autorin war nicht immer leicht und er zehrte an Tessas Kräften. Sie spürte es ganz deutlich. Sie war müder als sonst und brauchte auch mehr Schlaf als früher. Da wunderte es sie nicht, dass sie im Schlaf den Wecker ausgeschaltet hatte. Vermutlich war das ein Zeichen ihres Körpers, dass er noch etwas mehr Ruhe brauchte.

Tessa versuchte sich das Leben berühmter Autoren vorzustellen. Der Autoren, die von ihren Romanen wirklich leben konnten. Ob sie wohl viel Zeit in ihren Villen verbrachten? Oder ob sie eher mit Reisen beschäftigt waren, um Lesungen zu halten und Werbung für sich selbst und ihre Romane zu machen? Ob sie ihre Bücher wohl zu Hause schrieben? Oder entstanden die meisten Bestseller im Flugzeug? Ob Samuel White wohl viel Zeit zu Hause verbrachte?

Samuel White. 

Heute war das Abendessen mit ihm. Tessa schob die Gedanken an andere Autoren und deren Freizeitaktivitäten beiseite. Wenn sie heute schon nicht zur Uni ging, konnte sie den Tag wenigstens nutzen, um sich optimal auf das Gespräch mit Samuel vorzubereiten. Es war wichtig, dass ihr kein Fehler unterlief, der Samuel ahnen lassen könnte, was Tessa im Schilde führte. Tessa schlug ihre Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde zuerst unter die Dusche schlüpfen, um sich einen klaren Kopf zu verschaffen. 

Tessa saß mit nassen Haaren und in Jogginganzug vor ihrem Frühstück. Mit der rechten Hand hielt sie sich an ihrer Kaffeetasse fest, während sie in ihre Müslischüssel starrte. Wie zum Teufel begann man ein Gespräch, bei dem man einen Betrüger auffliegen lassen wollte? 

"Hi Samuel, sag mal, hast du eigentlich Ghostwriter angestellt, die für dich deine Romane schreiben?", befragte Tessa ihr Müsli. Frustriert zerquetschte sie mit ihrem Löffel die Heidelbeeren, so dass sich die Milch langsam blau färbte. Wie wurden Verdächtige in einem Polizeiverhör befragt? Tessa versuchte sich an die unzähligen Krimis zu erinnern, die sie zusammen mit Susan gesehen hatte.

Sie seufzte. Sie wünschte sich, Susan wäre hier. Die beiden würden sich am Tisch gegenüber sitzen und Susan würde so tun, als sei sie Samuel. So könnte Tessa herausfinden, wie sie am besten das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung lenken konnte. Aber Susan war nicht hier. Und wenn sie hörte, was Tessa vorhatte, würde sie erst recht nicht kommen.

Nachdem Tessa's Müsli nur noch ein matschiger Brei war, gab sie es auf, einen Weg zu finden, wie sie Samuel zu einem Geständnis bringen konnte. Es gab einfach zu viele Eventualitäten die eintreten konnten und auf die Tessa keinen Einfluss hatte. Also entschied sie sich, den Abend auf sich zukommen zu lassen und spontan zu reagieren. Wenn Tessa sich einen Text zurechtlegte und diesen vor Samuel auswendig vorsagte, könnte er ebenso Verdacht schöpfen. Also entschied sie sich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken.

Als Tessa ihr Müsli entsorgt hatte, beschloss sie, sich an ihren Schreibtisch zu setzen und den verpassten Vorlesungsstoff nachzuholen. Ein kurzer Blick auf die Uhr, verriet ihr, dass sie noch einige Stunden Zeit hatte bis sie sich für das Abendessen fertig machen müsste.

Als Tessa's Smartphone klingelte um sie daran zu erinnern, dass in einer Stunde das Abendessen mit Samuel war, hatte sie die Finger in ihren Haaren vergraben und starrte auf einen Haufen voll gekritzelter Notizblätter. Dieser Pseudocode des Algorithmus den sie wohl heute in der Vorlesung durchgenommen hatten, machte sie einfach wahnsinnig. Sie war ihn nun gefühlt schon zwanzig mal durchgegangen und zwanzig mal war ein anderes Ergebnis herausgekommen. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Genervt schob sie ihren Stuhl zurück. Sie hatte jetzt keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Sie musste sich noch für das Abendessen fertig machen.

Tessa entschied sich für ein bequemes, aber dennoch schickes Outfit. Sie trug eine schwarze Jeans und dazu ein T-shirt in einem altrosa Farbton, das sie lässig in den vorderen Bund ihrer Jeans gesteckt hatte. Ihre schulterlangen Haare hatte sie einfach so gelassen, wie sie nach dem Duschen getrocknet waren. Die Spitzen berührten beinahe ihre Schultern. 

Mit einem letzten Blick auf ihre Armbanduhr, versicherte sie sich, dass sie weder zu spät noch zu früh kommen würde. Sie griff nach ihrer Handtasche, die bereits an der Garderobe hing und machte sich auf den Weg zu dem Restaurant, in dem sich Samuel mit ihr treffen wollte. Während des Lernens konnte sie ihre Nervosität gut beiseite schieben, aber jetzt, auf dem direkten Weg, spürte sie das flaue Gefühl in der Magengegend umso deutlicher. Wie sollte sie nur etwas zu Essen hinunter bekommen? Geschweige denn einen entspannten und nicht verdächtigen Eindruck auf Samuel machen.

Nach etwa zwanzig Gehminuten war Tessa in der Stadt angekommen. Sie wusste wo das "Luigi" war und bog zielsicher in die Seitengasse ein. Als sie vor der Eingangstür stand, zwang sie sich ganz ruhig zu atmen. Sie atmete noch einmal tief ein und aus und öffnete dann die Tür.

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