Kapitel 29

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"Verflucht? Wie meinen Sie das, Mr. Smith?", fragte Tessa irritiert. Sie glaubte nicht an Übernatürliches, genauso wenig an Flüche oder sonstige Zaubereien. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen in diese alte Bibliothek zu kommen. Es hatte sicherlich einen Grund, wieso sie die einzige Besucherin hier war. Vielleicht war Mr. Smith einfach zu alt geworden um eine Bibliothek zu leiten. Vielleicht versuchte er den Besuchern etwas über seine Fantasien zu erzählen.

Aber Tessa mochte Mr. Smith. Auch wenn er vielleicht etwas seltsam war, sie fand ihn sympathisch. Und deshalb wollte sie ihm eine Chance geben, oder zumindest das gute Gefühl, dass sich jemand anhörte was er zu sagen hatte. Sie musste es ja nicht glauben.

"Die Geschichte der Familie White reicht weit zurück in die Vergangenheit. Sie ist Teil einer uralten Legende die älter ist, als Sie es sich jemals vorstellen könnten, Fräulein Tessa."

"Erzählen Sie mir davon, Mr. Smith. Ich würde es gerne hören."

"Sagen Sie, Fräulein Tessa, glauben Sie an Feen, Kobolde und Wichtel?"

Mr. Smith kam ein Stück näher und Tessa konnte ihr Spiegelbild in seinen dunkelblauen Augen erkennen. Kobolde und Wichtel kamen nur in Märchen oder Fantasiegeschichten wie Harry Potter vor. Sie waren reine Fiktion, deshalb antwortete sie: "Nein, ich glaube nicht daran."

Der alte Bibliothekar hob einen Finger und wich wieder ein Stück zurück. "Nach dieser Geschichte, sollten Sie Ihre Meinung vielleicht ändern."

Tessa schluckte eine passende Antwort hinunter. Sie hatte nicht vor an solche Fantasiegestalten zu glauben. Sie wollte einfach nur etwas über die Familie White erfahren. Dennoch beschloss sie weiter zuzuhören, vielleicht gab es doch interessante Fakten die Mr. Smith ihr mitteilte.

"Die Legende führt viele, viele tausende von Jahren zurück. Es war eine Zeit, zu der es die Familie White noch nicht gab. Es war eine Zeit, in der sich die Menschen die Erde mit geheimnisvollen Wesen teilen mussten. Die Menschen waren jedoch nicht bereit dazu, friedvoll mit diesen Wesen zu leben. Aus diesem Grund, entschieden sich die Wesen lieber im Verborgenen zu leben und die Menschen zu meiden. Ein kleines Volk dieser Wesen zog sich zurück in einen Wald. Dort konnten sie in Ruhe leben und mussten sich nicht vor den Menschen fürchten", Mr. Smith machte eine kleine Pause. "Bitte entschuldigen Sie, Fräulein Tessa. Aber so viel Besuch bekomme ich für gewöhnlich nicht. Meine Kehle ist schon ganz ausgetrocknet vom vielen Erzählen. Ich werde mir schnell ein Glas Wasser holen."

Mit diesen Worten ließ er Tessa allein zwischen den hohen Regalen in diesem kleinen Zimmer zurück. Wesen. Es hörte sich für Tessa so an, als würde Mr. Smith ihr ein Märchen von Peter Pan erzählen wollen. Sie ließ ihre Finger über die Buchrücken im Regal gleiten.

Tessa drehte sich um, als sie hinter sich die schlurfenden Schritte des alten Bibliothekars hörte. Er kam mit zwei Gläsern Wasser in den Händen zurück, eines davon hielt er Tessa entgegen. Dankend nahm sie es an und trank einen Schluck des kühlen Wassers. Auch ihre Kehle war ausgetrocknet durch diesen staubigen Raum.

"Bitte, Mr. Smith, erzählen Sie weiter."

"Ach, genau, wo war ich denn nur stehen geblieben?", irritiert kratzte sich Mr. Smith das Kinn.

"Sie erzählten von den Wesen, die sich in den Wald zurückgezogen hatten", half Tessa ihm auf die Sprünge.

"Ach, ja, genau", Mr. Smith's Blick klarte wieder auf. "Die Legende besagt, dass das Volk der Wesen einen König und eine Königin besaß, diesen musste das restliche Volk dienen. Der König und die Königin waren jedoch keine gerechten Herrscher. Es herrschte eine große Hungersnot im Volk, während die beiden Herrscher im Wohlstand lebten und mehr zu Essen hatten als es sich jemals jemand hätte erträumen können. Falls einer der Diener verzweifelt genug war und versuchte etwas von den Köstlichkeiten für seine verhungernde Familie zu stehlen, ließen der König und die Königin diesen verhaften. Vor den Augen des Volkes und der Familie, ließen sie ihn hinrichten um damit ein Zeichen zu setzen, dass es jedem der sich den Regeln widersetzte genauso ergehen würde."

Tessa schluckte schwer. Die Geschichte war grauenvoll. Auch wenn sie nicht an diese Wesen glaubte, berührte sie das Schicksal der Untertanen. Gespannt lauschte sie den Worten von Mr. Smith weiter.

"Die Not innerhalb des Volkes wurde immer stärker. So viele waren verhungert oder an Krankheiten gestorben. Der König und die Königin ignorierten die Not weiterhin. Einige der Wesen taten sich zusammen, der Kummer über verstorbene Familienmitglieder war größer als die Angst vor den Herrschern. Sie beschlossen, dem König und der Königin eine Falle zu stellen und sie umzubringen. Das Volk wollte in Freiheit leben, sie hatten genug von der Hungersnot. Also schmiedeten sie einen Plan", Mr. Smith machte wieder eine Pause und nahm zwei große Schlucke Wasser aus seinem Glas.

Tessa sah ihn gespannt an, eines musste man Mr. Smith lassen, egal, ob die Geschichte nun erfunden war oder nicht, er war ein hervorragender Geschichtenerzähler. Am liebsten hätte Tessa ihn gedrängt fortzufahren, doch sie war so höflich und ließ ihm die Zeit, die er brauchte.

Mr. Smith räusperte sich und fuhr fort: "Also drang die Gruppe von Wesen eines Nachts in die Schlafgemächer des Königs und der Königin ein. Sie gingen davon aus, dass von ihrem König die größere Gefahr ausging, deshalb töteten sie ihn zuerst. Einer der Wesen hatte einen Dolch geschmiedet, den er dem König direkt ins Herz stach. Die Königin stieß einen grellen Schrei aus, als sie zusehen musste, wie ihr geliebter Mann umgebracht wurde. Derjenige, der den König getötet hatte, wandte sich nun der Königin zu, doch diese wehrte sich mit allen Kräften. Nach einem erbitternden Kampf konnte die Königin dennoch nichts gegen den Dolch ihres Angreifers ausrichten und so sank sie blutend zusammen, mit dem Dolch in ihrem Bauch."

Tessa umklammerte ihr Wasserglas und bemerkte, dass sie zitterte. Sie hatte Mitleid mit den Wesen die so leiden mussten, aber auch regte sich ein wenig Mitgefühl für die Königin, die ihrem geliebten Mann beim Sterben zusehen musste. Egal wie bösartig die beiden Herrscher des Volkes waren, niemand hatte es verdient einen geliebten Menschen sterben zu sehen. Als der Bibliothekar mit seiner Erzählung fortfuhr, hielt Tessa gespannt die Luft an.

"Die Königin lag im Sterben und die Wesen standen ratlos um sie herum, als sich ihre Augen plötzlich schwarz verfärbten. Mit letzter Kraft richtete sie sich auf und begann zu sprechen. Mit Entsetzen stellten die Wesen fest, dass es sich bei der Königin um eine böse Hexe handelte. Die Trauer über ihren verstorbenen Gatten brachte sie dazu, einen schrecklichen Fluch über die Wesen zu verhängen. Sie griff nach drei Gegenständen die ihr am nächsten waren und sprach einen Zauber. Die Wesen würden niemals frei sein, sie würden niemals sterben, sie würden für immer demjenigen dienen müssen und ihm jeden Wunsch erfüllen, der Besitzer der drei Heiligtümer war. Doch die Königin war mit ihrer Rache noch nicht am Ende, sie wollte, dass die Wesen niemals mehr ein normales Leben führen konnten. Die Wesen töteten des Hungers wegen, aus diesem Grund, verhängte die Königin einen weiteren Fluch über die Wesen.  Niemals mehr sollten die Wesen normale Nahrung zu sich nehmen, stattdessen sollten sie sich von Gedanken und Erinnerungen anderer Lebewesen ernähren. Sobald die Wesen andere ihrer Erinnerungen beraubten, durchlebten sie diese, als seien es ihre eigenen, auch die grausamsten und dunkelsten Gedanken. Als die Königin den Fluch zu Ende gesprochen hatte, fiel sie leblos zu Boden."

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