Kapitel 27

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Am nächsten Morgen wachte Tessa wie gerädert auf. Jeder einzelne Knochen ihres Körpers tat weh, ihr Schädel pochte so sehr, als würde er jeden Moment explodieren. Die vergangene Nacht hatte eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Jedes mal, wenn Tessa versuchte die Erinnerungen in die hinterste Ecke ihres Gehirns zu drängen, erinnerte der pochende Schmerz ihres Kopfes sie wieder daran, dass das nicht möglich war.

Tessa griff nach ihrem Smartphone und sah, dass Denny ihr bereits eine Nachricht geschrieben hatte. Er erkundigte sich, wie es ihr ging und ob alles okay sei. Aber Tessa wollte aktuell nicht mit ihm reden, generell wollte sie mit niemandem reden. Frustriert schmiss sie das Smartphone in ihre Bettdecke und krabbelte vorsichtig aus dem Bett.

Zum Glück war heute Samstag. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in diesem Zustand zu einer Vorlesung hätte gehen sollen. Stattdessen vereinbarte sie mit sich selbst, ihre Wohnung heute nicht mehr zu verlassen. Nachdem sie sich im Bad umgezogen hatte und ihren Schlafanzug gegen einen Jogginganzug ausgetauscht hatte, schaltete sie die Kaffeemaschine ein. Mit einer Tasse frischem, heißem Kaffee sah die Welt bestimmt gleich ganz anders aus.

Tessa schaltete den Fernseher ein und machte es sich mit ihrem Kaffee auf ihrem Bett bequem. Sie zappte ein wenig durch die Kanäle und blieb schließlich bei den Nachrichten hängen. Sie schluckte schwer. Ein Foto einer lachenden Lisbeth Miller strahlte ihr entgegen. Der Nachrichtensprecher erwähnte, wie wichtig es sei, dass jeder Bürger der Stadt die Augen offen hielt und sich sofort bei der Polizei melden sollte, falls er eine Beobachtung gemacht hatte. Gleichzeitig warnte er davor, dass niemand den Helden spielen sollte, da die Polizei davon ausging, dass der Täter extrem gefährlich sei und vor nichts zurückschreckte.

Beinahe wäre Tessa die Tasse aus der Hand gerutscht. Sie wusste, dass es ein gewisses Zeitfenster gab, in dem die Chancen relativ hoch waren das Entführungsopfer noch lebend zu finden. Das Zeitfenster von Lisbeth war jedoch bereits geschlossen. Tessa fühlte sich schuldig. Was, wenn Samuel tatsächlich der Täter war? Und sie war die Einzige, die das wusste und auch beweisen konnte? Falls Lisbeth sterben würde, wäre Tessa mit Schuld daran. Lisbeths Blut würde auch an ihren Händen kleben. Könnte sie jemals damit für den Rest ihres Lebens leben?

Mit pochendem Herzen sprang Tessa aus ihrem Bett. Das durfte sie nicht zulassen! Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass Lisbeth noch am leben war, dann musste Tessa alles daran setzen um ihr zu helfen. Sie konnte unmöglich zur Polizei gehen und ihnen von der Handtasche in Samuels Haus erzählen. Denn dabei würde sie sich gleichzeitig des Einbruchs schuldig sprechen. Sie musste unbedingt mehr über Samuel herausfinden. Vielleicht gab es in seiner Vergangenheit ein dunkles Kapitel, von dem niemand wusste. Wenn sie eine Verbindung zwischen Samuel und den Entführungen herstellen konnte, dann konnte sie damit auch zur Polizei gehen, ohne zu erwähnen, dass sie bei ihm eingebrochen war.

Sie klappte den Bildschirm ihres Laptops nach oben und öffnete die Suchmaschine. Nervös trommelte Tessa mit ihren Fingern auf der Tastatur herum. Wo sollte sie anfangen? Für den Anfang tippte Tessa nur den Vor- und Nachnamen ein - Samuel White. Schnell lieferte ihr die Suchmaschine tausende von Treffern. Wie hätte es auch anders sein können bei einem weltberühmten Autor. Sie war nicht die Erste die etwas über Samuel herausfinden wollte. Aber wie sollte sie in den unendlichen Tiefen des Internets an die Informationen gelangen, die für sie wichtig waren?

Ohne darüber nachzudenken, öffnete sie einfach den ersten Artikel, der klassische Wikipedia-Eintrag. Sie fing an zu lesen, aber alles was dort stand, kannte Tessa bereits. Bis sie Samuel persönlich kennen gelernt hatte, war sie einer seiner größten Fans gewesen und kannte jedes Detail seines Lebens. Auch seinen Wikipedia-Eintrag hatte sie schon mehrmals gelesen. Aber bei keinem der unzähligen Male kam er ihr irgendwie seltsam vor. Irgendetwas war anders an diesem Wikipedia-Eintrag.

Tessa kniff die Augen zusammen. Sie öffnete einen neuen Tab und gab dieses Mal "Keanu Reeves" in die Suchmaschine ein und öffnete den Wikipedia-Eintrag des Schauspielers. Ihr Blick blieb am Inhaltsverzeichnis des Eintrags hängen. Der Eintrag des Schauspielers war untergliedert in Familie, Privatleben, Filmkarriere und weiteren Abschnitten die es seinen Fans erlaubte, tiefere Einblicke in sein Leben zu erhaschen. Dann wechselte Tessa wieder den Tab zu Samuels Wikipedia-Eintrag. Sein Eintrag hatte ein wesentlich kürzeres Inhaltsverzeichnis.

Sie wusste, dass jeder einen Wikipedia-Eintrag so gestalten konnte, wie er wollte. Es war also keine Pflicht, Angaben über Familie oder Sonstiges zu machen. Jedoch kamen die heutigen Stars, egal ob Schauspieler, Musiker oder Autor, nicht drum rum, dass der ein oder andere Journalist doch etwas Privates über sie herausfand. Die Leben der heutigen Berühmtheiten waren offene Bücher und sie mussten um jeden Fetzen Privatsphäre kämpfen, wie eine Löwin um ihre Jungen.

Je berühmter jemand war, desto mehr wusste die Welt über sein Privatleben. Und Samuel White war nicht erst seit gestern ein weltberühmter Autor. Trotzdem war in seinem Wikipedia-Eintrag so gut wie nichts über ihn als Privatperson zu lesen. Unter dem Reiter "Familie" stand lediglich, dass er der Sohn von Meredith und John White war. Keine Information darüber, wo er geboren war, wo er aufgewachsen war oder was seine Eltern für einen Beruf ausübten. All diese Informationen fehlten bei Samuel, jedoch nicht bei Keanu Reeves.

Tessa kratzte sich an der Stirn. Sie war verunsichert. Interpretierte sie wieder zu viel hinein? Vielleicht hatte sich einfach noch niemand die Mühe gemacht mehr über Samuels Vergangenheit herauszufinden. Vielleicht war es nur ein dummer Zufall und hatte gar nichts zu bedeuten. Tessa seufzte und schloss den Wikipedia-Eintrag. Im Studium hatte sie gelernt, dass Wikipedia nicht unbedingt die zuverlässigste Quelle war. Sie beschloss mit ihrer Suche fortzufahren, vielleicht hatte sie auf anderen Seiten mehr Glück.

Nach drei Stunden rieb sich Tessa müde die Augen. Sie hatte mittlerweile unzählige Artikel, Beiträge und Videos zu Samuel White gelesen oder gesehen. Allerdings hatte sie nichts davon weitergebracht. Sie war nicht mehr oder weniger schlau als zuvor. Viele Artikel oder Videos konnte sie als Unfug ausschließen, die anderen, erzählten ihr nicht mehr als sie eh schon wusste. Samuels Familie war bis jetzt ein Geheimnis. Die Frage war nur, wieso?

Es gab unendlich viele Möglichkeiten weshalb Samuel seine Familie aus der Öffentlichkeit raus hielt. Vielleicht hatte er kein gutes Verhältnis zu ihnen, oder hatte den Kontakt sogar ganz abgebrochen. Vielleicht waren seine Eltern gestorben und die Erinnerungen an sie schmerzten zu sehr. Oder aber, es gab ein düsteres Geheimnis in seiner Familie, das Samuel unbedingt versteckt halten wollte.

Tessa schüttelte den Kopf. Sie war verwirrt. Sie hatte Angst, dass sie sich in etwas hineinsteigerte was gar nicht existierte. Was wenn Susan Recht hatte? Wenn Tessa langsam verrückt wurde. Dann sah sie wieder das Foto der lachenden Lisbeth vor sich und ihr Herz wurde ganz schwer. Aber was war, wenn Tessa die Einzige war, die den entscheidenden Hinweis liefern konnte und Lisbeth das Leben retten konnte?

Sie kam zu dem Entschluss, dass das Internet keine sichere Quelle war. Es war zu schnelllebig. Jede Sekunde konnte eine unbekannte Person ein beliebiges Detail verändern. Sogar Tessa selbst könnte einen frei erfundenen Beitrag über Samuel schreiben und die halbe Welt würde ihr glauben. Sie brauchte eine zuverlässigere Quelle als das. Sie legte einen Finger an die Nasenspitze. Wie kam man an Informationen heran, bevor das Internet erfunden wurde?

Aus Bibliotheken! Als Tessa noch in die 5. Klasse ging, hatte sie öfters Bibliotheken besucht um für die Schule zu recherchieren. Über die Suchmaschine brachte sie in Erfahrung wo die nächste, große Bibliothek war. In sekundenschnelle klappte sie ihren Laptop zu und zog sich um.

Die größte Bibliothek der Stadt befand sich nur zehn Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt. Es war einen Versuch wert, dachte sich Tessa und schloss die Tür hinter sich als sie sich auf den Weg zur Bibliothek machte.

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