Ende 2018 - Angst, Angst und Todesangst

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23.11.2018
ich habe gestern auf dem Weg von der Schule nach Hause gemerkt, wie groß mein Hunger ist und wie sehr mein Blutzuckerspiegel gesunken ist. Zu Hause bin ich psychisch zusammengebrochen und körperlich ging es mir ganz einfach dreckig. Meine Mutter war für mich da. Ich habe dann ein paar Bissen von ihrem Kartoffelbrei und eine Schüssel Kaisergemüse gegessen. Dann Pistazien. Und 6 Trockenfeigen. Und eine Schüssel Apfelmark. Das schlechte Gewissen war mächtig, denn es war nicht geplant, das alles zu essen. Dann war ich erstmal voll. Aber ich war nicht mehr hungrig. Das war auch erstmal erleichternd, keine Hungerschmerzen zu spüren, aber ich fühlte mich schuldig dafür, dass ich meinen Hunger gestillt habe, ohne dass es erlaubt war.

Natürlich hat mich die Angst vor dem Zunehmen wieder im Griff, aber ich versuche mit aller Kraft, mich dagegen zu wehren. Es gelingt mir nur nicht.
Abends aß ich leider auch etwas. Am Ende des Tages war ich bestimmt bei 2.000 Kalorien oder sogar noch mehr.
Die Angst machte sich heute Morgen direkt beim Aufstehen in mir breit. Die erste Angst, die sich allerdings noch im Rahmen hielt, war die kalte Dusche. Morgens ist mir sowieso immer schon so kalt und dann muss ich meinem Körper jeden Morgen dieses eiskalte Wasser antun. Ich kann es auch einfach nicht lassen, weil es schon zum Zwang geworden ist. Ich weiß, dass es zusätzliche Kalorien verbrennt, weil mein Körper härter arbeiten muss, um Wärme zu produzieren, also denke ich nicht lang nach und mache es einfach. Die kalte Dusche ist nun einmal eine Regel, an die ich mich halten muss. Das ist wie das Händewaschen nach dem Toilettengang. Man macht es einfach.
Schließlich muss ich jede Chance nutzen, noch mehr Kalorien zu verbrennen. Eine Minute reicht mir meistens, nachdem ich erst mit wärmerem Wasser geduscht habe. Am Wochenende können es ruhig auch mal zwei Minuten sein. Länger halte ich es nicht aus.
Nachdem ich mich fertig gemacht habe, bin ich ohne Musik aus dem Haus gegangen. Normalerweise gehe ich immer mit Musik in den Ohren los.
Nach ein paar Metern habe ich einen Mann gehört, der komische Geräusche von sich gegeben hat. Ähnlich wie ein Husten, aber komischer. Sofort stieg in mir die Todesangst auf. Er war etwa 150 m von mir entfernt. Ich drehte mich immer wieder zu ihm um und erkannte in der Dunkelheit nichts außer seine Silhouette. Die Angststörung war seit langem mal wieder vehement, wie sie schon lange nicht mehr war. Ich dachte, der rennt jeden Moment auf mich zu und tut mir weh oder killt mich oder so'n Kack. Ich bekam das Gefühl, er wird immer schneller, also rannte ich von da an zum Bahnhof, weil ich unter die Menschen wollte.
Das Gute an der Todesangst war, dass ich jetzt weiß, dass ich eigentlich nicht sterben will. Und mir wird klar, wie wichtig Nahrung sein kann. Hätte ich gestern weniger gegessen, hätte ich wahrscheinlich nicht so schnell laufen können. Trotzdem konnte ich vor ein paar Wochen noch besser laufen. Es bringt mich innerlich um, zu sehen, dass meine Fitness abnimmt, aber es bringt mich ebenfalls innerlich um, wenn ich nicht weiterhin Gewicht verliere.
Durch die Unmenge an kalter Luft, die ich in kurzer Zeit viel zu schnell einatmete, tat meine Lunge schrecklich weh. Es war ein sehr stechender Schmerz, der noch über eine Stunde lang anhielt. Am Bahnhof angekommen, musste ich mich erstmal beruhigen, doch das war unsagbar schwer. Ich war zittrig und mein Puls war noch so weit oben, wie er vorher in die Höhe geschossen ist.

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Seit diesem Erlebnis hatte ich jeden Morgen Todesangst auf dem Weg zur Schule. Damit ich schneller am Bahnhof ankam, fuhr ich nun mit dem Fahrrad, was den Bewegungsdrang in meinem Kopf verschlimmerte. Die Fahrradfahrt brachte mich nämlich nicht zu meinem Schrittziel, weshalb ich immer früher am Bahnhof war, um noch Zeit dafür zu haben, den Bahnsteig wie ein Bekloppter auf und ab zu gehen. Alle anderen standen rum während sie auf die Bahn warteten und ich nutzte jede freie Minute, um so viele Schritte wie möglich zu gehen. Jedes Mal kam ich mir dabei so blöd vor. Ich war davon überzeugt, dass die Menschen wussten, weshalb ich so viel umherging. Ich wollte nicht, dass die Menschen wussten, dass ich essgestört bin.
Es war kalt, dunkel, ich war hundemüde und trotz der erhöhten (aber noch nicht ausreichenden) Nahrungszufuhr schlapp. Jeden Morgen ging ich durch die Hölle.
Wäre es hell gewesen und hätte ich mehr Energie gehabt, wäre das Problem wahrscheinlich nicht so nah an mich rangekommen, aber es nahm mich mit und bereitete mir schlaflose Nächte.
Meine Mutter musste mich morgens zum Bahnhof begleiten und ich gehe seitdem nicht mehr ohne Pfefferspray und Taschenmesser aus dem Haus.
Menschen, die niemals eine richtige Angststörung und Panikattacken erlebt haben, verstehen diese Angst wahrscheinlich nicht, aber für mich war es wirklich unerträglich. In dieser Situation half mir kein logischer Gedanke, da mich die Angst davon überzeugte, diese „Gestalt" würde mir eines Morgens zu nahe kommen und etwas mit mir anstellen.
Als ich kleiner war, war diese Angst auch am helllichten Tag in meinem Kopf, weshalb es mir jedes Mal schwerfiel, das Haus zu verlassen. Als das dann irgendwann besser wurde, hätte ich nicht damit gerechnet, dass die Angst jemals wieder so ein Ausmaß annimmt.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 23, 2021 ⏰

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