Ende 2018 - Die Körperfettwaage, das Wiegen & Vertrauen gegenüber Lehrern

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10 Wochen lang hatten wir Sportunterricht im Aspria. Das ist quasi ein Fitnessclub für reiche Leute. Ich nannte es auch gern „das Bonzen-Fitnessstudio". 

Der Schwimmunterricht war die reinste Qual, da ich nur am Frieren und Zittern war, obwohl warme Temperaturen herrschten. In der letzten Woche durften wir an ein paar Fitnesstests teilnehmen. Neben dem Antioxidantien-Test, bei dem ich sogar die Skala sprengte, stand eine Thalia-Körperwaage bereit, die einiges messen konnte. Die Messwerte vom 24. Oktober 2018 habe ich immer noch auf einem Zettel, den die Waage ausspuckte.
44,7 kg. 13% Körperfett. BMI 18,4.
Von all den Werten auf dem Zettel, waren das die Zahlen, die für mich äußerst interessant waren. Die Werte gaben mir den Ansporn, die Zahlen zu reduzieren. Nicht nur das motivierte mich. Der junge Mann, der mit uns diese Tests durchführte, sagte zu meinem Körperfettanteil, dass man hart arbeiten müsse, um diesen zu reduzieren. Je niedriger der Körperfettanteil, desto mehr muss man sich anstrengen, diesen noch weiter zu verringern oder einfach nur zu halten.
Dieser Mann hat überhaupt keine Ahnung wie sehr ich mich anstrengen kann. Ich werd's ihm beweisen. Ich werd's mir beweisen.
Ich wollte die 39. Ich wollte die 8%. Ich wollte die 16. Also nahm ich die Anstrengung in Kauf.


Jedes Mal, bevor ich mich früh morgens auf die Waage stellte, gab es einen oder mehrere Einläufe mit warmem Wasser, um mich vollständig zu leeren, damit die Waage noch weniger Gewicht anzeigte. Auch wenn ich morgens mit Durst aufwachte und nur einen kleinen Schluck trinken wollte, musste ich erst den Einlauf hinter mich bringen, bevor ich mir erlaubte, meinen Durst zu stillen. Es durfte bloß kein zusätzliches Gewicht auf die Waage. Nur nach Fastentagen wog ich mich. Unbekleidet, nach dem Einlauf, halb am verdursten. Dafür stand ich gerne früher auf, weil ich wusste, ich würde nicht enttäuscht werden.
Gewicht verlieren konnte ich nun besser als je zuvor. Ich konnte etwas richtig gut. Selbstzerstörung.
Die häufigen Einläufe spülten meinen Darm kaputt. Zwar können Einläufe gut sein, jedoch nicht so viele und nur, wenn man ihn wirklich benötigt. Ich hatte keinen nötig.  Doch um mich ganz leer zu fühlen, hatte ich den Zwang, mir das Prozedere so häufig anzutun.
Die Zahlen hielt ich immer schriftlich fest. Neben dem Gewicht zeigte mir die Waage auch meinen Körperfettanteil an. Nicht so genau wie die Thalia-Körperwaage, aber es reichte aus, da ich ja trotzdem sehen konnte, wie die Zahl nach und nach kleiner wurde. Um meinen Bauch- und Oberschenkelumfang zu messen, besaß ich ein Maßband, welches ich in einer Schublade versteckte. Die Waage ließ ich unter meinem Bett verschwinden. Meine Eltern sollten möglichst nicht wissen, wie vernarrt ich in diese Zahlen war.


Vor dem Kochunterricht einmal in der Woche bekam ich immer mehr Angst, da wir das gekochte Gericht dort auch aßen und wir jedes Mal zusätzlich eine vegane Option zubereiteten. Dass es keine pflanzliche Option gibt, konnte ich also nicht als Ausrede dafür verwenden, nichts zu essen. Somit mussten andere Ausreden her.
Kein Hunger.
Obwohl ich natürlich Hunger hatte und in der Pause darauf meinen geplanten Haferbrei mit Obst aß, um mein Fasten zu brechen.
Ich muss nüchtern bleiben, weil ich nachher zum Blutabnehmen muss.
Ich wundere mich noch heute, wie man mir glauben konnte, dass ich NACH 10 Stunden Schule NÜCHTERN zum Blutabnehmen muss. Ich dachte erst auch, dass ich damit niemals durchkomme, aber ich wollte nicht immer die gleiche Ausrede benutzen.
Das ist mir zu scharf.
Wenn man wirklich am Hungern ist, ist es egal, wie scharf das Essen ist. Es sei denn, man ist essgestört, dann ist das eine „wunderbare" Ausrede.
Das mag ich nicht so gerne.
Wer Essen aus dem Müll holt, um es zu essen, dem kann es auch egal sein, wie das Essen schmeckt. Außerdem gibt es wenig, was ich nicht mag. Aber das wusste ja mein Kochlehrer nicht.

Es machte mich fertig, dass ich oft nicht wusste, was wir kochen würden, da ich dann nicht richtig planen und mich auf das Essen einstellen konnte.
Wenn ich mitaß, was oft genug vorkam, nahm ich mir immer sehr wenig und versuchte die Menge auf dem Teller so zu verteilen, dass es nach mehr aussah und sehr langsam zu essen, damit niemand etwas merkt.
Aber mein Kochlehrer merkte es irgendwann, weil er mir ansah, dass ich dünner geworden bin (selbst unter der Kochkleidung konnte ich meinen mageren kleinen Körper nicht mehr verstecken) und ich den Anschein machte, körperlich schwach zu sein. Außerdem sah er, wie wenig ich bei ihm aß, oder dass ich überhaupt nichts aß.
Er sprach nach fast jedem Kochunterricht mit mir: „Was macht das Köpfchen?" Erst erzählte ich ihm nur vom Schulstress und vom Drang, immer alles perfekt machen zu müssen. Daraufhin meinte er zu mir, dass es neben 15 Punkten auch ein Leben gibt und ich damit anfangen sollte, diese wertvolle Zeit auszukosten. Daneben ließ er einen Satz von sich, der mir im Kopf hängen blieb: „Ich muss nicht müssen. Ich kann können." Noch spürte ich nicht den Drang, diesen Satz auszuleben, sondern ihn einfach öfter in meine Gedanken zu rufen und dabei hoffte ich, dass es mir irgendwann gelingt, diesen Spruch zu verwirklichen.
Nach weiteren Gesprächen merkte ich, dass ich ihm vertrauen kann und erwähnte mit viel Überwindung mein Problem mit dem Essen. Ich weiß nicht, was ich von ihm erwartete, aber natürlich sagte er, dass ich sowieso zu dünn sei und mir ein paar Kilo mehr nicht schaden würden, weshalb ich auch essen darf. Er sah meinen Veganismus als Problem, mein Essen so zu reduzieren. Ich wusste, dass es nicht der Veganismus war. Es lag nie am Veganismus. Es war das Fasten trotz Untergewicht an drei Tagen in der Woche. Es war der Plan, nur zu bestimmten Uhrzeiten essen zu dürfen. Es war einzig und allein die Reduktion an sich, die das Problem darstellte. Nicht der Veganismus. Der Veganismus war für mich nie Verzicht, nie Reduktion. Der Veganismus war für mich immer eine Bereicherung.
Trotzdem schätzte ich es, dass er sich regelmäßig nach meinem Befinden erkundigte und ständig ein offenes Ohr für seine Schüler hatte. Ich redete gerne über alles Mögliche mit ihm.
Meine Klassenlehrerin, die gleichzeitig auch mein Lieblingsfach Ernährung unterrichtete, fragte uns Schüler auch gerne im Einzelgespräch, wie es uns geht. Sie registrierte meinen fatalen Zustand und beobachtete, dass ich mich überarbeitete. Also erzählte ich auch ihr von meinem Essproblem, da sie immer sehr verständnisvoll wirkte. Wie erwartet, reagierte sie mit viel Verständnis, doch sie sprach etwas aus, was mich von innen auffraß: „So abgemagert siehst du aber zum Glück nicht aus."
Zu Hause heulte ich mir die Augen aus dem Kopf.
Andere wiederum bemerkten meinen Gewichtsverlust und ließen Kommentare ab, wie „Fliegengewicht" und „Du solltest mehr essen." Vor allem meine Mutter und teilweise auch mein Vater erwähnten ständig, dass ich zu dünn sei und meine Knochen schon hervorstachen. Es machte mich so stolz, von anderen regelmäßig das zu hören, was ich hören wollte.
Was die Essstörung hören wollte.
Mir war klar, dass ich noch lange nicht an meinem Ziel angekommen war und ich noch eine Weile durch die Hölle gehen musste.
Durchhalten. Einfach durchhalten. Bleib stark. Mit 39 kg siehst du schön mager aus. Dann kannst du endlich zufrieden sein.

Meinem Kochlehrer und meiner Klassenlehrerin log ich jedes Mal etwas vor, wenn sie mich fragten, wie es bei mir gefühlsmäßig aussieht. Es fiel mir so schwer, weil ich Lügen so verabscheue und es tat mir leid, aber ich konnte nicht anders, als zu sagen: „Ich arbeite dran. Ich versuche jetzt, mehr zu essen."
Stattdessen machte ich das ganze Gegenteil. Schließlich musste ich mir beweisen, dass ich magerer aussehen kann. Gleichzeitig sollten meine Lehrer denken, dass ich nun auf einem guten Genesungsweg bin. Es widersprach sich aber alles mit meinem gelogenen Vorhaben, gesund werden zu wollen.
Mein Kochlehrer stellte besorgt fest, dass ich noch mehr Gewicht verloren habe.So etwas von außen zu hören, löste in mir ein stolzes Gefühl aus. Der Stolz brachte mich dazu, einfach weiterzumachen.
Im Spiegel entdeckte ich selber einen dünnen Jungen, bei dem die Knochen hervorstachen. Es war also nicht so, dass ich mich als viel zu fett sah. Ich wusste, dass ich dünner geworden bin und konnte es irgendwie auch sehen, aber so wirklich zufrieden war ich nie. Jedes bisschen Fett, was sich noch an meinem Körper befand, musste verschwinden. Es war Gift und ich musste es loswerden.

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt