Auf der Berufsschule fühlte ich mich direkt überfordert und glaubte nicht daran, es schaffen zu können, weil schon in den ersten Tagen alles zu schwer und zu viel war. Für mich jedenfalls.
Also fehlte ich zwei Wochen, in denen ich darüber nachdachte, was ich statt dem Gymnasium machen sollte, oder ob es nicht besser wäre, mein Leben zu beenden. Ich war ja sowieso nicht mit mir zufrieden und ich wollte nicht in meinem Körper leben. Wenn man andere Personen nicht mag, ist es möglich, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber was macht man, wenn man sich selbst nicht leiden kann?
Mein Vater wusste auch nicht, wie er mir helfen sollte und schrie mich an, wenn meine Nervenzusammenbrüche ihm zu viel wurden. Und für diesen Schmerz, für diesen unglaublich einsamen stechenden Schmerz, kann ich auch heute keine Worte finden. An wen konnte ich mich klammern?
Natürlich versuchte ich es bei Konny und erzählte ihm ein wenig von meiner Situation, aber über Skype funktionierte das alles nicht optimal und ich kannte Konny noch nicht gut genug, um ihm klar zu machen, wie ernst meine psychische Verfassung war. Dieses Vertrauen musste sich nach und nach aufbauen. Außerdem fühlte ich mich auch einsam, wenn wir skypten. Die Einsamkeit verschwand nur, wenn ich tatsächlich bei ihm war.
Ich brauchte jemanden, der mich in den Arm nahm und mir sagte, dass alles wieder gut wird und ich meinen Weg schon noch finden werde.
Allein gelassen mit meinem Schmerz griff ich nach einer langen Zeit ohne Selbstverletzung doch wieder zur Klinge, weil ich nicht wusste, wie ich mein Hirn sonst am besten abstellen konnte. Außerdem wollte ich, dass mir der Appetit vergeht, wenn ich die blutenden Schnitte sah.
Jeden Tag zog ich mich in den Keller zurück und hörte laut emotionale Musik, während ich mir die Arme aufschnitt, mir die Augen aus dem Kopf heulte und das Leid aus meiner Seele schrie. Ganz vorne mit dabei war das Lied „Breathe Me" von SIA. Ich hörte es immer, wenn ich mich verstanden fühlen wollte. Dadurch konnte ich den ganzen Schmerz noch besser rauslassen.
Die salzigen Tränen vermischten sich mit meinem warmen Blut und ich stellte mir vor, wie schön es wäre, darin zu ertrinken.
Ich hatte keine Lösung für den Schmerz, fand keine Alternative zur neuen Schule und machte mir ernsthafte Gedanken um meine Zukunft.
Die Motivation, wieder zur Schule zu kommen, bekam ich unter anderem von einem Mitschüler. Lenni. Er und ein paar andere Mitschüler schrieben mir in der Zeit, in der ich nicht zur Schule kam. Er war traurig über meinen Gedanken, etwas anderes anfangen zu wollen. Als ich dann aber vernünftig darüber nachdachte, kam ich zu dem Entschluss, dass ich das nicht einfach aufgeben konnte. Ich wollte aufgeben, so gerne aufgeben, aber ich konnte nicht.
Der Weg mochte zwar schwer werden und mich oftmals an meine Grenzen und noch viel weiter bringen, aber genau dieser Weg sollte mich zu meinem Ziel führen. Ernährung ist genau mein Thema und das wollte ich nicht loslassen. Das ist der Grund warum ich nach diesen zwei Wochen wiederkam.
Sobald ich wieder zur Schule ging, setzte ich mich neben Lenni. Ihn kennenzulernen war ein echtes Abenteuer und das wird es auch immer bleiben, da wir wahnsinnig viele Gemeinsamkeiten haben und man schon sagen kann, dass wir waschechte Seelenverwandte sind.
Wir kämpften uns zusammen durch die schwierige Zeit der Schule und konnten angenehme Momente genießen. Ich traf mich aber viel zu selten mit ihm, da ich ja darauf achten musste, meine Routine einzuhalten, die sich aufgrund der veränderten Schulsituation geändert hat.
Statt 10 Minuten dauerte mein Schulweg nun fast eine Stunde. Statt um 13:30 Uhr war ich nun durchschnittlich um 16 Uhr zu Hause. Das heißt, dass ich nach der Schule direkt Sport machte, obwohl ich von dem langen anstrengenden Schultag schon so kaputt war und es mir meistens auch an Schlaf mangelte, da ich oft bis in die Nacht Hausaufgaben machte und einfach nicht zur Ruhe kam, weil ich mit dem Kopf ununterbrochen bei der Schule oder bei meinem Essverhalten war. Abends mein Essen zuzubereiten dauerte auch immer länger, da es immer perfekter sein musste, das Abwiegen der Nahrungsmittel und das Eintragen in die App viel Zeit in Anspruch nahm.
Für die LGBTQ-Jugendgruppe nahm ich mir keine Zeit mehr, da das Einhalten meiner Routine und die Schule zur Priorität wurde.
Wenn meine Eltern den Wocheneinkauf erledigten, kam ich nicht mehr mit, da mir dazu auch die Zeit fehlte, also schrieb ich meinen Eltern die Dinge auf, die ich für die Woche brauchte. Fehlte ein Lebensmittel oder war irgendetwas falsch, was jede Woche vorkam, bekam ich einen Wutanfall, da das meinen Perfektionismus störte. Es sollte doch immer alles laufen wie geplant. Doch das tat es nicht, wenn die Lebensmittel fehlten, die ich für die Woche einplante. Dieses Problem löste unsäglichen Streit aus. „Schon wieder bin ich dein Blitzableiter. Sei froh, dass wir überhaupt einkaufen gehen.", hörte ich immer wieder von meiner Mutter. Und das gab mir im Nachhinein den Anstoß, mich für meinen Wutanfall zu entschuldigen. Ich schämte mich jedes Mal dafür und wusste genau, wie übertrieben es von mir war, nur wegen ein paar fehlenden Lebensmitteln auszurasten.
Nur, weil etwas nicht so lief, wie es die Essstörung wollte.An den meisten Wochenenden war ich bei Konny, was bedeutete, dass ich diese Zeit nicht mehr für Fressanfälle nutzte. Die brauchte ich bei ihm ja auch nicht, da er und seine Familie meine Einsamkeit verschwinden ließen. Das erste Mal seit langem aß ich nicht alleine in meinem Zimmer, sondern mit Menschen, bei denen ich mich wohlfühlte. An das gemeinsame Essen musste ich mich anfangs wieder gewöhnen, doch nach einigen Wochenenden bei ihm, war es nicht mehr so schwierig.
Bei Konny fühlte ich mich vollkommen geborgen. Er füllte mein Herz mit wärmender Liebe, weshalb ich das übermäßige Essen nicht dazu nutzen musste. Ich sah nun sein Zuhause als mein richtiges Zuhause, da ich dort Geborgenheit und Liebe fand und gleichzeitig eine richtige Familie. Doch immer, wenn ich wieder nach Hause kam, merkte ich wie schnell meine Laune wieder bergab ging, da mich das wärmende Gefühl verließ und zu Hause die Probleme meiner Eltern zu spüren bekam.
In solchen Momenten griff ich vermehrt zum Essen, was sich allerdings auch von Mal zu Mal reduzierte.
Die Beziehung mit Konny war etwas, was meine Freude am Leben hielt, genauso wie die Freundschaft mit Lenni.
Lenni und ich teilten jedes Leid und jede Freude miteinander und fingen sogar an, ein gemeinsames Tagebuch zu führen, welches uns durch schwere, aber auch schöne Zeiten brachte. Ich vertraute ihm von Grund auf. Jeden Gedanken teilte ich mit ihm. Er selbst hatte nämlich auch Probleme mit dem Essen und reduzierte oftmals seine Nahrungsmengen, deshalb wusste ich erst recht, dass er mich verstehen würde.06.12.2017
Lenni, ich glaube ich habe ein Problem mit dem Essen, weil ich ziemlich wenig esse und nicht so wirklich auf mein Hungergefühl höre. Deshalb bin ich körperlich auch recht schwach. Eigentlich müsste ich ganz einfach wieder mehr essen, damit es mir besser geht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht so richtig klappt, weil ich Angst davor habe, dieses eklige Fett wieder zuzunehmen und dann wird der Selbsthass wieder zu heftig, sodass ich nur noch sterben will.-----------------------------------------------------------------------
Das Kalorienzählen klappte bei Konny allerdings nicht, also musste ich schauen, dass ich trotzdem die Kontrolle hatte, meine Nahrungsmenge möglichst klein zu halten. Um mich orientieren zu können, benutzte ich den Kalorienzähler in meinem Kopf, der sich durch das häufige Kalorienzählen entwickelt hatte. Ich wusste fast von jedem Lebensmittel, wie hoch sein Energiegehalt war und musste im Kopf die Zahlen nur noch überschlagen um ungefähr zu wissen, wie viel ich essen durfte. Dabei überschätzte ich die Menge auch ganz gerne mal, um bloß nicht die Kaloriengrenze zu überschreiten. Die Grenze war 1.700 kcal.
Außerdem musste ich immer weniger als Konny essen. Schließlich durfte niemand über mich denken, ich wäre verfressen.
Statt meinem gewohnten Haferbrei, den ich immer nur mit Wasser kochte, gab es bei Konny zum Frühstück meistens selbstgebackene Dinkel-Brötchen oder Brot. Zum Glück mit einem hohen Vollkornanteil, sonst hätte es mich noch mehr Überwindung gekostet, es zu essen. Eigentlich stand Brot auf der Liste der verbotenen Lebensmittel, aber ich wollte nicht den Anschein erwecken, ein Problem mit dem Essen zu haben, weil man von Jungs so etwas nicht erwartet, also aß ich einfach. Und es schmeckte wirklich immer himmlisch. Besonders, wenn man schon so lange kein Brot und keine Brötchen gegessen hat. Doch nach jedem Frühstück bei Konny hatte ich ein schlechtes Gewissen.
Manchmal aßen wir nachmittags Kuchen, in dem natürlich Zucker enthalten war, und ich kam mit dem Gefühl nicht klar, versagt zu haben, da ich die verbotenste Zutat überhaupt gegessen habe. Zucker.
„Du hättest auch einfach zu Hause bleiben und deinen gewohnten Wasser-Haferbrei essen können". Aber hätte ich das getan, hätte ich Vieles verpasst. Unter anderem ein neues Hobby, das Bouldern. Und das Wichtigste überhaupt: Seine Liebe.
DU LIEST GERADE
Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlen
RandomEine sehr persönliche Geschichte, die durch sämtliche Höhen und Tiefen einer Essstörung und deren Genesung geht. Realitätsnah. Emotional. Echt. (TRIGGERWARNUNG: Gewicht, Kalorien, Depressionen, Selbsthass)