09.01.2019

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Ich kann nicht mehr weitermachen wie bisher. Ich muss gesund werden. Ich will gesund werden.

Heute ist Mittwoch und somit normalerweise ein Fastentag, neben Montag und Freitag/Samstag. Auf dem Schulweg habe ich aber heute wieder bemerkt, wie schwach ich bin und wie sehr ich mich darauf konzentrieren muss, nicht umzukippen. Dabei sind die einzigen aktiven Anteile meines Schulweges nur die fünf-minütige Fahrradfahrt zum Bahnhof, der 200 Meter lange Weg vom Hauptbahnhof zur U-Bahnstation und der sieben-minütige Weg von der U-Bahnstation zur Berufsschule. Dort gehe ich gerade in die 12. Klasse des beruflichen Gymnasiums, welches den Schwerpunkt Ernährungswissenschaften hat. Wie passend bei einer Essstörung, wenn man sich sowieso schon den ganzen Tag den Kopf zerbricht, da sich die Gedanken nur noch ums Essen drehen. Ich denke ständig an die nächste Mahlzeit, selbst wenn ich vor zwei Minuten erst etwas gegessen habe.
Was esse ich später/übermorgen/in zwei Wochen/auf der Geburtstagsfeier meiner Oma/an Weihnachten? Wie viel esse ich später/übermorgen/in zwei Wochen/auf der Geburtstagsfeier meiner Oma/an Weihnachten? Um welche Uhrzeit esse ich? Mit welchem Lebensmittel beginne ich meine Mahlzeit? Wie viele Kalorien wird die Mahlzeit haben? Werde ich danach satt sein? Was lasse ich lieber weg?
Und dann lässt man immer mehr weg, was dazu führt, dass man immer weniger Energie hat. Energie, die man fürs Leben bräuchte. Gehen, atmen, sich freuen, lachen, lesen, tanzen, weinen, reden, zuhören, konzentrieren, kochen, klettern, blöde Sprüche von sich geben. All das funktioniert nur noch im Energiesparmodus. 
Die körperliche Schwäche ist ein entscheidender Auslöser meiner Motivation, der Essstörung in ihren knochigen Arsch zu treten.
Nicht nur für meinen Schulweg, den ich tagtäglich bewältigen muss, sondern auch für alles andere im Leben brauche ich Kraft, die ich nur durch Nahrung bekomme, die ich mir an drei Fastentagen in der Woche komplett verboten habe. Nur Wasser und Tee waren erlaubt.
Es ist belastend, wenn man jeden Tag während des Schulwegs nur daran denkt, bloß nicht umzukippen und wie fantastisch es wäre, wieder Kraft zu haben. Aber dann setzt die Essstörung den gesunden Gedanken ein Ende und schüchtert diese ein, indem sie versucht, mich davon zu überzeugen, ich würde mich so viel besser fühlen, wenn ich die Macht über die Zahl auf der Waage habe. Wenn ich die Macht über mein Körpergewicht habe. Wenn ich die Macht über meinen Körper habe.
Dabei habe ich nicht annähernd die Macht. Die Macht hatte die ganze Zeit die Essstörung. Schon immer. Die Essstörung, das Monster, das mein Leben zerstört. Der Teufel, der sich in meinem Kopf festsetzt. Das Biest, das die Kontrolle über meine Selbstzerstörung hat. Das Ungeheuer, das mich dazu bringt, zu glauben, diese Art von "Selbstdisziplin" sei lobenswert. Es überzeugt mich davon, eine bestimmte Zahl auf der Waage zu erreichen, sei ein beachtenswertes Ziel, durch das ich endlich Zufriedenheit erlangen kann. Zufriedenheit ... nicht für mich. Nur für die Essstörung.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich ständig friere. Und es ist nicht nur ein leichtes Frösteln. Es ist Eiseskälte, die aus meinen Knochen entspringt und meinen gesamten Körper zum Erstarren bringt. So musste ich selbst im Sommer mit meiner Decke durchs Haus laufen. Und die Essstörung meinte, es sei normal, derartig zu frieren. Frieren sei schließlich gesund. Frieren verbrennt Kalorien.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich keinen klaren Kopf habe und sich meine Gedanken nur ums Essen drehen.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich dadurch nicht einschlafen kann.
Ich bin nicht zufrieden, wenn in der Schule meine Konzentration nachlässt.
In der Schule bin ich immer der letzte, der den vorliegenden Text zu Ende gelesen hat, weil ich mich immens anstrengen muss, Konzentration zu finden. Ständig schweifen meine Gedanken zum Thema Essen ab, obwohl ich doch gerade einen Text lese, der von etwas völlig anderem handelt.
An einen meiner vielen Fastentage kann ich mich noch erinnern, an dem mein Freund mich anrief und mir Dinge erzählte, auf die ich mich überhaupt nicht konzentrieren konnte, da mich der Hunger plagte und ich mal wieder nur ans Essen denken konnte. Ich fühlte mich so schuldig, da ich in dem Moment gerne für ihn da gewesen wäre, also entschuldigte ich mich mehrmals bei ihm. 
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich an meinen Nägeln oder an meinen Wangeninnenseiten herumkauen muss, nur um das Gefühl haben zu können, etwas zu essen.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich nichts unternehmen kann, weil mir für alles die Kraft fehlt und ich am liebsten den ganzen Tag nur noch im Bett liegen würde.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich ständig die Angst vor dem Hungern überwinden muss, weil mich die Essstörung dazu zwingt. 
Ich bin nicht zufrieden, wenn mir schon die Ohren platzen, weil mein Magen so laut knurrt.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich Essen nicht mehr genießen kann, weil es nur noch Stress ist.
Ich bin nicht zufrieden, wenn mich alle immer nur als Schwächling vernehmen.
Ich bin nicht zufrieden, wenn ich mit 18 Jahren aussehe wie 14.
Ich bin nicht zufrieden, wenn sich mein Leben nur noch um Zahlen und Essen dreht. Wenn der einzige Lebensinhalt das Abnehmen ist.
In erster Linie fühlte sich das Abnehmen immer so an, als würde ich unnötigen Ballast abwerfen. Ballast, ohne den es sich leichter leben lässt. Mit jedem Gramm Körpergewicht weniger, fühlte ich mich reiner. Mein Körperfett nahm ich nur als Abfall wahr, den ich so schnell wie möglich entsorgen musste. So machte ich das auch in anderen Bereichen meines Lebens. Alles aussortieren, was für mich keinen Nutzen mehr hatte. Weg damit! Diese Art von Minimalismus ist wenigstens gesund und tut mir wirklich gut, weil es so erleichternd ist und ich mich mit zu viel Besitz sowieso überfordert fühle. Aber sobald ich den Minimalismus so ausgeprägt in meiner Ernährungsweise ausübte, ging es mir nur miserabler. Körperlich und mental.
Ich war der festen Überzeugung, dass meine Fettreserven als Energiequelle ausreichten und ich die Nahrung erstmal nur für die Mikronährstoffe benötigen würde. Schon einige Male habe ich gesehen, wie Übergewichtige in mehreren Monaten durch das Wasserfasten ein gesundes Gewicht erlangt haben. Ganz ohne Nahrung. Wieso also sollten meine Fettreserven nicht für das reichen, was ich vorhatte?

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt