Gegen den Willen meiner Eltern entschied ich mich am 21.04.2015 dazu, vegan zu leben. Nach vielen Diskussionen mit ihnen, wollte ich mir ihr Verbot nicht weiter bieten lassen, also ging ich es einfach an. Ich wollte nicht damit warten müssen, bis ich endlich ausgezogen bin.
Die ethischen Gründe standen für mich im Vordergrund. Was die Ernährung gesundheitlich bedeutete, darüber informierte ich mich auch im Vorfeld, um meine Eltern zu beruhigen, dass mir diese Ernährungsweise nicht schaden wird. Ganz im Gegenteil. Ich war und bin immer noch von den gesundheitlichen Vorteilen einer vollwertigen pflanzlichen Ernährung überzeugt. Meinen Eltern war das trotzdem nicht ganz geheuer.
Nach kurzer Zeit konnte ich die Bedenken meiner Eltern mindern und sie akzeptierten so langsam meine Entscheidung.
Es gab so viele Lebensmittel auszuprobieren, die für mich alle neu waren. Alles, was ich noch nicht kannte, wollte ich unbedingt ausprobieren. Dazu gehörten viele verschiedene Rezepte, Aufstriche, Pflanzendrinks, Schokolade und vieles mehr. Der Gang durch Bioläden, Reformhäuser oder die Bio-Regale in Drogeriemärkten wurde für mich zur Leidenschaft, weshalb ich dort insgesamt viel Zeit verbrachte.
Was? Da ist kein Industriezucker drin? Wunderbar!
Wieso steht Sonnenblumenöl so weit oben in der Zutatenliste? Das geht doch auch anders!
Wieso verkaufen Bioläden immer noch Produkte mit Palmöl?
AAAHH, so viel Öl, so viele Kalorien!!! Schnell zurück ins Regal damit.
Nur 32 Kalorien auf 100 g? Ich glaube ich habe ein neues Safe-Food gefunden.
So platzte mir beim Einkaufen manchmal der Kopf.
Essen wurde für mich immer wertvoller und spielte in meinem Leben eine immer wichtigere Rolle als nur die Energiequelle.
Essen war meine Freude. Meine Geborgenheit. Meine Liebe. Meine Ablenkung. Mein Trost. Meine Kontrolle.
Aber eben auch meine Furcht. Mein Selbsthass. Meine Tränen. Mein Schmerz. Mein Schuldgefühl. Mein schlechtes Gewissen. Mein Kontrollverlust.17.06.2015
[...] Nach der Schule war ich mit Papa bei Alnatura. Ich halte mich immer ewig bei Alnatura auf, weil es immer so viele coole Lebensmittel gibt, die man unter die Lupe nehmen muss. Ich komme mir dabei manchmal etwas blöd vor, weil ich wirklich immer so lange dort bin und die Produkte auf ihre Nährwerte und Zutaten "untersuche", weil das daran das Interessanteste ist.
Der Einkauf (Soja-Drink, Vanillepudding, Vego Schokolade, Hanfsamen und Haferdrink) von heute ist für meinen Geburtstag. [...]-----------------------------------------------------------------------
Da meine Eltern ihre Ernährung nicht umstellen wollten, bereitete ich mein Essen nur noch selbst zu und lernte das Kochen. Es fing mit Reis, Brokkoli, Spinat und Erbsen an. Zwar hatte ich nicht viel Erfahrung, aber für den Anfang waren meine ersten Versuche gar nicht so schlecht. Jedenfalls konnte man es essen, obwohl ich Brokkoli anfangs hasste. Meine Geschmacksknospen konnte ich aber soweit trainieren (es ist so bemerkenswert, dass das wirklich funktioniert), dass ich Brokkoli super gern mochte und ich generell Obst und Gemüse viel leckerer fand als davor. Ich merkte, wie gut ich mich damit fühlte, mehr vollwertige pflanzliche Nahrungsmittel in meinen Speiseplan zu integrieren. Das Verlangen nach Ungesundem Essen verspürte ich immer weniger und Gemüse schmeckte mir von Mal zu Mal besser. Trotzdem verzichtete ich nicht gänzlich auf hochverarbeitete Lebensmittel, da ich hin und wieder Lust darauf hatte und immer noch einige neue vegane Lebensmittel ausprobieren wollte.
Ich nahm etwa 3 Kilogramm ab und war somit bei 50 kg.
Ich kochte nicht nur für mich selber, sondern aß auch immer öfter alleine in meinem Zimmer. Das bewirkte, dass ich mich mehr von meinen Eltern distanzierte. Ich zog mich beim Essen zurück, weil ich dabei meine Ruhe haben wollte und ich diese bei meinen Eltern nicht fand. Sowieso gab es nie ein schönes familiäres Beisammensein während den Mahlzeiten, also zog ich mich in mein Zimmer zurück, schaute Netflix, um mich weniger allein zu fühlen und eine angenehme Stimmung zu schaffen, und aß dabei.
Manchmal kochte ich aber auch für meine Familie, um zu zeigen, dass gesundes veganes Essen auch lecker sein kann. Damit konnte ich sie schrittweise dazu bringen, mehr auf eine pflanzliche Ernährung umzusteigen. So richtig geklappt hat das aber auch nicht, da mein Vater mich nur als militanten Veganer betrachtete und deshalb wenig Lust darauf hatte, sich vegan zu ernähren, weshalb sich ein paar tierische Produkte immer im Kühlschrank befanden bzw. immer noch befinden. Selbst heute ist mein Vater noch nicht gänzlich vom Veganismus überzeugt.
Meine Mutter hingegen hat ihre Ernährung langsam aber sicher auf eine pflanzenbasierte umgestellt. Der Weg dahin war aber auch ein einziges Auf und Ab (ähnlich wie mein Gewicht), weil meine Mutter die Gründe für diese Ernährungsweise erst nicht wirklich nachvollziehen konnte.
Da ich von dem veganen Lebensstil sehr überzeugt bin, hatte ich die Hoffnung, ich könne meine Eltern auch irgendwann zu 100 % von dieser guten Sache überzeugen. Umwelt, Tiere und die Gesundheit standen dabei von jeher im Vordergrund.
Ich versuchte es immer wieder. Meine vielen „Predigten" haben zwar ein bewussteres Essverhalten hervorgerufen und mein Vater isst ja nun auch vermehrt vegan, aber es gab immer wieder Streit, der zu explodieren schien. Ich wollte immer nur etwas Gutes tun und ein Umdenken bewirken. Stattdessen löste ich damit einen drastischen Schaden in der Familie aus. Denn insgeheim wollte ich, neben meiner positiven Intention, Leid zu reduzieren, die Kontrolle haben. Ich dachte, wenn ich meine Familie dazu bringen kann, vegan zu leben und generell einen gesünderen und nachhaltigeren Lebensstil zu entwickeln, dann würde ich die Kontrolle haben und mich zu Hause wohler fühlen.
Mein Vater war und ist der Ansicht, dass ich als Kind nicht so viel zu sagen habe, wie er als „Autoritätsperson", weshalb ich ihm beweisen wollte, dass ich das eben doch kann. Ich darf meinen Mund aufmachen, wenn ich etwas als falsch betrachte. Ich darf meine Meinung sagen. Ich muss mich nicht zurückhalten. Ich muss mich nicht von meinem Vater auf eine niedrigere Stufe stellen lassen. Also hörte ich nicht damit auf, mein Wissen zu verbreiten. Und es war auch nicht irgendein Pseudo-Wissen. Ich setzte mich wirklich ernsthaft mit dem Thema auseinander, vor allem was die Auswirkungen auf die Umwelt, die Tiere und die Gesundheit betraf. Das tue ich auch immer noch, da mir das ganze Thema sehr am Herzen liegt und zu meiner Leidenschaft geworden ist. Besonders der Effekt der Ernährung auf den Körper ist mein Lieblingsgebiet. Mein Vater hasste es, wenn ich ihn und meine Mutter umfassend informierte. Er hasste meine Leidenschaft. Er hasste meine "fanatische" Art im Umgang mit dem Veganismus. Er war immer nur zufrieden, wenn ich gute Leistungen erbrachte. Und dabei meinen Mund hielt. Das sagte er mir nie explizit, aber ich konnte das erahnen. Gute Noten erfreuten ihn. Meine Zeichnungen und Malereien erfreuten ihn. Meine gekochten Gerichte erfreuten ihn, wenn es ihm denn schmeckte. Doch sobald ich meinen Mund aufmachte, um bedeutende Dinge mitzuteilen, die ihm nicht gefielen, wurde er wütend. Er sagte mir immer wieder, dass ich mit allem was ich sagte, Recht hätte, er seinen Lebensstil aber nicht - der Umwelt, der Tiere und seiner Gesundheit zu Liebe - ändern will, da er sonst einen Teil seiner Identität verlieren würde. Meine Leistungen waren anscheinend die einzige Freude, die ich meinen Eltern machen konnte.Durch weitere Internetrecherche zum Thema „Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung" traf ich auf „High Carb Low Fat" (HCLF). Diese Ernährungsweise stellt (komplexe) Kohlenhydrate in den Vordergrund und schränkt den Fettanteil etwas ein. Die Nährstoffverteilung sieht in etwa wie folgt aus: 70% Kohlenhydrate, 20% Fett, 10% Eiweiß. Ganz so genau habe ich es nie genommen, aber ich achtete immer darauf, möglichst auf vollwertige Nahrungsmittel zurückzugreifen und komplexe Kohlenhydrate (z.B. Vollkornprodukte, Obst, Gemüse) in den Mittelpunkt meiner Ernährung zu stellen. Damit hatte ich auch keine Probleme und körperlich ging es mir damit ausgezeichnet und fitter fühlte ich mich auch. Hochverarbeitete Industrieprodukte sollten zunehmend aus dem Speiseplan gestrichen werden. Mich überkam ein schlechtes Gewissen, wenn ich diese Regel nicht einhielt. Und das kam häufiger vor, als ich eigentlich wollte, da Industrieprodukte mich oft noch anlächelten und ich nicht widerstehen konnte. Noch musste ich lernen, konsequent zu sein.
08.06.2015
[...] Übrigens ernähre ich mich so gut es geht High Carb Low Fat. Diese Ernährung ist super für mich! [...]
16.07.2015
[...] Zu Hause hatte ich irgendwie keine Lust auf Obst, außer auf Bananen, die leider noch nicht reif waren und es war halt nicht wirklich was anderes da, also habe ich ein paar Stücke Zartbitterschokolade gegessen. Den Alpro-Kirschjoghurt habe ich heute auch ganz aufgegessen. Brot mit Schokocreme und Marmelade gab es danach auch noch, obwohl ich das alles gar nicht wirklich essen wollte. So viel Schrott mit Fett und Industriezucker war ein riesen Fehler, was ich vorher ja eigentlich schon wusste.
Nun sitze ich im Bett und habe kaum Kraft, bin etwas zittrig und mein Herz rast. [...]25.07.2015
[...] Im Reformhaus habe ich mir noch die BioBis Kekse und die iChoc Schoko Cookie Schokolade gekauft. Zu Hause war die Schokolade sofort weg. Leider. Wenigstens habe ich meinem Bruder etwas davon abgegeben und die Tafel wog auch nur 80 g.
Ich muss mich echt wieder mehr zusammenreißen. Nach meinem Geburtstag versuche ich einfach mal auf Industriezucker (so gut es nun mal geht) zu verzichten. Ich hoffe, dass es klappt. Ich darf nicht wieder zunehmen. Ich will nicht. Ich will nicht wieder diese ganz schlimmen Fressanfälle bekommen und so viel zunehmen. [...]
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Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlen
AléatoireEine sehr persönliche Geschichte, die durch sämtliche Höhen und Tiefen einer Essstörung und deren Genesung geht. Realitätsnah. Emotional. Echt. (TRIGGERWARNUNG: Gewicht, Kalorien, Depressionen, Selbsthass)