Die Sommerferien waren in Selbsthass und Isolation getränkt. Ich traute mich kaum raus, und wenn ich tatsächlich unter Menschen war, konnte ich mich manchmal nicht zurückhalten und fing an zu weinen. Die Depressionen waren qualvoll. Die Einsamkeit fraß mich von innen auf, genauso wie die Angst vor dem Schulwechsel. In der Klinik entschied ich mich nämlich dazu, vom Gymnasium auf eine Realschule zu wechseln, einfach um Last von meinen Schultern zu nehmen und für ein besseres Umfeld zu sorgen.
Ich spuckte sinnbildlich all das Positive aus und fraß mich mit Trigger-Foods voll, weshalb ich mich jeden Tag nur noch widerlicher fühlte. Meine Gefühle drückte ich durch das Malen und Zeichnen aus, wozu ich mich überwinden musste, da ich mich mit jeder Tätigkeit schwertat.
Morgens aufzustehen, gehörte dazu. Nebenbei bin ich in zahlreichen Heulkrämpfen versunken, die kein Ende nehmen wollten. Literweise Tränen habe ich vergossen. Mein Inneres tat schrecklich weh. Es fühlte sich an, als würde mein Herz zerreißen.
Des Weiteren musste ich erfahren, dass meine Wirbel zwar wieder zusammengewachsen sind, jedoch etwas schief, sodass nun meine Haltung ein wenig darunter leidet und ich hin und wieder Rückenschmerzen habe. Und das nur, weil ich den Sport nicht sein lassen konnte.
Ich fühlte mich psychisch derart elend, sodass meine Eltern mich am liebsten wieder in der Klinik sehen wollten. Sie waren am Verzweifeln, weil sie mir nicht helfen konnten. Und ich konnte mir noch weniger helfen.
Ich wartete mit Angst, aber auch gleichzeitig mit Freude auf den Schulbeginn.Die ersten Wochen auf der neuen Schule erwiesen sich als unerträglich. Ich fühlte mich erst überfordert, da ich nun wieder regelmäßig zur Schule gehen, Hausaufgaben erledigen und mich an die neue Umgebung, die Schüler, Lehrer und das Schulleben gewöhnen musste. Fast nach jedem Schultag brach ich zu Hause in Tränen aus, die so schnell nicht mehr zu bändigen waren.
Zum Glück wurde ich recht schnell von meiner damaligen besten Freundin Emma und ihren Freunden in die Klasse integriert.
Die Klasse war um einiges erträglicher und offener, als die Klasse davor. Es war alles so viel persönlicher und es wurde sich mehr auf ein Miteinander, anstatt auf einen Leistungswettbewerb fokussiert. So hatte ich die Möglichkeit, mein Selbstbewusstsein ein wenig aufzubauen und selbst offener zu werden. Geoutet habe ich mich erst ein paar Monate später. Jedoch nicht vor der ganzen Klasse, sondern immer nach und nach vor ein paar Leuten, mit denen ich mich gut verstand. Das hat sich dann natürlich auch herumgesprochen.
Es gab ein paar fiese Kommentare und Lästereien, die mir erst zu schaffen machten, aber mit der Zeit lernte ich, zu mir selbst zu stehen und, dass es egal war, was andere dachten, solange ich den Weg gehe, den ich für richtig halte.
Zum Glück hatte ich wegen der Transsexualität noch nie Probleme mit Mobbing.
Mit dem Schulstoff kam ich nach kurzer Zeit auch besser zurecht und entwickelte mich sogar zum Klassenbesten. Ich arbeitete eisern dafür, damit ich diesen Status behielt.
Generell gab es immer mal wieder Phasen, in denen es mir wieder schlechter ging und Essen und Selbstverletzung als Ablenkung von meinem psychischen Leid sah, doch insgesamt ging es mir auf der neuen Schule besser.
Zu Beginn der neunten Klasse verlor ich die gesunde Ernährung zeitweise aus den Augen und legte weniger Wert auf Restriktion, gewährte mir aber trotzdem an Wochenenden die beliebten Cheat Days, um mein Belohnungssystem zu aktivieren und ein Ventil für den anfänglichen Stress zu finden.
Unter anderem Schokolade war ein kurzfristiges Heilmittel für die Psyche, obwohl ich wusste, dass es nicht die gesündeste Wahl ist. Das war mir in meinem Zustand aber relativ egal. Das ist der Grund, wieso ich im Herbst 59 Kilogramm wog. Diese Zahl brannte sich mit einer beträchtlichen Menge an Selbsthass in meinen Kopf und ich fühlte mich gezwungen, das Gewicht schnellstmöglich zu reduzieren.
Weiblichkeit reduzieren. Ballast reduzieren.
Da mein Rücken schließlich wieder relativ in Ordnung war, war auch intensiver Sport in meinen Augen wieder erlaubt, weshalb ich mich fast jeden Tag dazu gezwungen habe. Mein Orthopäde war anderer Meinung, denn er wollte, dass ich mit dem Sport noch wartete. Mal wieder hörte ich nicht darauf. Der Preis, den ich zahlen musste, waren quälende Rückenschmerzen.
HIIT sollte man höchstens 3 Mal in der Woche machen, weil der Körper nach solchen intensiven Trainingseinheiten ausreichend Regenerationszeit benötigt.
Ich machte es 5 bis 7 Mal wöchentlich und das viel zu lange. Da HIIT sehr anstrengend ist, sind 20 Minuten schon genug, um seinen Körper ausreichend zu trainieren, wenn man es richtig macht. 20 Minuten waren für mich irgendwann nicht mehr genügend, weshalb ich die Dauer von Zeit zu Zeit auf 50 bis 60 Minuten steigerte. Vor dem Sport bekam ich große Angst, da ich mich jedes Mal völlig verausgaben musste. Es wurde zum Zwang, sich nach dem Sport völlig tot zu fühlen, denn das löste in mir viele Glückshormone aus. Ich war erst zufrieden, wenn mich die Trainingseinheit völlig zerstörte. Und damit meine ich nicht nur die normale Erschöpfung nach dem Sport.
Ich meine Schwindel.
Ich meine Sterne sehen.
Ich meine das Gefühl, gleich umzukippen.
Ich meine Zittrigkeit.
Ich meine den Wunsch zu sterben, um nie wieder ein solches Workout machen zu müssen.
Erst dann verdiente ich mir mein Abendessen. Das Abendessen, an das ich schon lange vor dem Workout dachte, da mich mein Hunger dazu brachte, nur ans Essen zu denken. Das Abendessen, welches nicht ausreichte, um richtig satt zu werden.
Die Angst vor dem Sport gehörte für mich dazu und meiner Meinung nach war er nicht dazu da, um Spaß zu haben, sondern um Kalorien zu verbrennen.
Egal wie erledigt ich von der Schule war. Egal, ob ich Schmerzen hatte. Egal, wie es mir gesundheitlich ging. Egal, wie niedrig mein Blutzuckerspiegel vom restriktiven Essen war. Egal wie schwach ich deshalb war.
Das Workout musste durchgezogen werden, sonst konnte ich nicht mit gutem Gewissen essen.
Gehäuft kam es vor, dass ich während des Workouts weinte, weil meine Kräfte keine weitere Übung mehr zuließen. Auch dann musste ich dranbleiben, ansonsten wäre ich enttäuscht von mir gewesen.
Ich entdeckte die 1000-Calorie-Workouts von Fitnessblender und brachte jede Woche mindestens eins hinter mich. 90 Minuten Bewegung bis zur völligen Erschöpfung. HIIT war immer ein Teil dieser Workouts, genauso wie ein Ganzkörper-Krafttraining. Der Lichtblick während der Workouts war immer das Cool Down und das Abendessen.
Schon bald drehte sich mein ganzer Alltag nur um diese Routine.
Schule, zu Hause ein wenig essen, das Abendessen vorkochen, 2-3 Stunden Hausaufgaben machen oder im Internet surfen, mit Sport das Abendessen verdienen. Tag ein, Tag aus.
Wenn ich mich tatsächlich mit Freunden traf, musste ich darauf achten, meiner Sport- und Kochroutine noch nachgehen zu können, weshalb ich mich jedes Mal früher von ihnen verabschiedet habe, obwohl ich eigentlich noch Zeit und Lust gehabt hätte. Und wenn ich doch mal "viel zu spät" zu Hause war, dann wurde auch noch um 21 Uhr Sport gemacht.
Als sich die Routine mehr in mein Leben etabliert hat, versuchte ich jedoch, Verabredungen so gut wie möglich zu vermeiden, da diese mich nicht näher an mein Ziel brachten. Nach wie vor war das Ziel 40 kg.
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Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlen
CasualeEine sehr persönliche Geschichte, die durch sämtliche Höhen und Tiefen einer Essstörung und deren Genesung geht. Realitätsnah. Emotional. Echt. (TRIGGERWARNUNG: Gewicht, Kalorien, Depressionen, Selbsthass)