Anfang 2016 - 10 Wochen zuckerfrei & Zukunftsängste

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16.01.2016
[...] Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe mich auf die Waage gestellt. 56,7 kg. 1,2 kg mehr als letzte Woche. Ich bin so traurig und fühle mich so fett. Alles nur Ballast.
Ich dachte, ich hätte abgenommen, da ich ja auch viel Sport gemacht habe, aber die Zunahme lag bestimmt an dem Frustessen diese Woche. Es war zwar nicht wirklich ungesund, aber es war jeden Tag über meinem Kalorienbedarf. Ich bin so enttäuscht von mir. Auch zum Frühstück habe ich heute wieder über meinen Hunger hinaus "gefressen". Obwohl ich weiß, dass Brot mit Marmelade (mit Industriezucker) und Cornflakes (ebenfalls mit Industriezucker) nicht gut für mich sind, habe ich es gegessen. Den ganzen Tag habe ich nur gegessen. Und geheult. Es ist wieder so weit. Ich will sterben. Mir fehlt die Kraft. 

Ich lag eine Zeit lang im Bett. Dann habe ich Sport gemacht, wobei ich sehr kraftlos war. Am Ende war ich so erschöpft, dass ich die Übungen kaum noch ausführen konnte und anfing, zu weinen.

18.01.2016
[...] Zum Glück hat mir Papa erlaubt, den veganen Schokoaufstrich mitzunehmen. Wenn ich das Praktikum "überstanden" habe, mache ich einen Cheat-Day, um mich für mein Durchhalten zu belohnen. Darauf freue ich mich schon sehr.

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Das Praktikum im Kindergarten hielt ich wegen der Sozialphobie nicht durch. Nach einem Probetag wusste ich schon, dass ich dort nicht mehr hingehen würde. Das Problem sprach ich bei meiner Therapeutin an und vergoss viele Tränen, doch sie verstand mich nicht und verlangte von mir, zum Praktikum zu gehen. Mir war bewusst, dass das einzige Mittel gegen meine Angst Überwindung war, aber mir fehlte schlichtweg die Kraft dazu.
Nach dieser Therapiestunde hatte ich von ihr endgültig die Schnauze voll und erlitt zu Hause einen mächtigen Nervenzusammenbruch gepaart mit einer Panikattacke.
"Die schlimmste Panikattacke in meinem Leben". So schrieb ich es in mein Tagebuch.
Also wollte ich diese Therapeutin nie wieder sehen.

Um mich besser zu fühlen, entschied ich mich dazu, eine Weile industriezuckerfrei zu leben und mich möglichst „clean" zu ernähren. Unverarbeitet, so gut wie es ging.
Stoppen konnte ich die Fressanfälle dadurch nicht, aber ich fühlte mich gut, wenn ich meine selbst auferlegte Regel einhielt. Wenn ich schon nicht die Menge kontrollieren konnte, dann wenigstens die Art der Lebensmittel.

06.03.2016
[...] Schon seit zwei Wochen esse ich keinen Industriezucker, kein Brot, kein Öl, nichts mit Weißmehl und versuche von Montag bis Samstag im Kaloriendefizit zu bleiben. Ich mache auch immer noch regelmäßig Sport. Mit Fitnessblender. Das versuche ich jetzt erstmal 12 Wochen lang, also muss ich noch 10 Wochen durchhalten. Sonntags esse ich über meinen Kalorienbedarf hinaus, weil ich das Kaloriendefizit in der Woche sonst nicht lange durchhalte, aber ich esse nichts Ungesundes. Schoko-Haferbrei ist geil. Was ich diese Woche noch für mich entdeckt habe ist Erdnussmus mit Banane.

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Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht verstanden, dass eine gesunde Ernährungsweise nicht aus Verboten und Regeln besteht, sondern daraus, sich durch seine Ernährung fit zu fühlen und diese Ernährung auch unproblematisch umzusetzen und durchzuhalten ist. Restriktion hält man nicht durch. Das hat schon der wöchentliche Fressanfall bewiesen. Und ich brauchte noch weitere Jahre um das endlich zu verstehen. Naja, verstanden hatte ich es schon irgendwie. Ich habe es ständig in Beiträgen über den Grund von Fressanfällen und in Artikeln über Gewichtsabnahme gelesen, konnte aber nicht von dem Restriktionsverhalten loskommen, also auch nicht von den ausgeprägten Fressanfällen und seinen spürbaren Folgen.

13.04.2016
Gestern hatte ich in der Schule heftige Bauchkrämpfe. Derartige Bauchschmerzen hatte ich noch nie. Die zwei Tage davor habe ich aber auch echt viel gegessen (alles ohne Industriezucker und ohne Weißmehl). Meinem Verdauungstrakt hat diese Menge wohl nicht gefallen. Es entstanden viele sehr unangenehme Verdauungsgase. Papa musste mich abholen, da mir das Gehen schwerfiel.

Und heute geht's mir auch nicht gut.
Meine Zukunftsängste werden schlimmer und schlimmer, da ich nicht weiß, was auf mich zukommt und wo mein Weg letztendlich hinführt.
Wie soll ich mein Leben mit Sozialphobie und Depressionen auf die Reihe bekommen?
Wenn ich nicht einmal ein einfaches Praktikum im Kindergarten hinter mich bringen kann, wie soll ich dann tapfer durch mein Leben gehen?
Lieber wäre ich tot. Einfach weg. Ich kann nicht mehr.
Jeden Tag die gleiche Scheiße.
Aufstehen, Schule, Hausaufgaben, Essen abwiegen und in die App eintragen, Sport, Angst, Depressionen, Einsamkeit und Mamas Krankheit*. 
Es wächst mir alles über den Kopf.
Alles.
Ich will meinen Opa zurück, dann bin ich wenigstens nicht mehr so einsam.
Ich will gesund sein und eine schöne Zukunftsaussicht haben.
Ich möchte ein richtiges Ziel haben. Einen guten Plan, den ich auch umsetzen kann.
Ich möchte nicht ständig mit Angst durchs Leben gehen. Es ist so anstrengend.
Mama und Papa wollen, dass ich wieder in eine Klinik gehe. Und zur Therapie. Ich möchte das nicht. Es nützt sowieso nichts. Kann ich jetzt nicht einfach sterben? Bitte...
Ich will nichts lieber als sterben. Nicht mehr existieren. Mich in Luft auslösen. Keinen Schmerz mehr spüren.

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*Parallel zu den Depressionen leidet meine Mutter nämlich seit 2009 unter einer Tic-Störung, die bewirkt, dass sie sich ständig nervig räuspert (ich finde dafür leider kein anderes Wort, denn das müsste erst noch erfunden werden) und ich kann es so langsam nicht mehr hören, weil es für mich ein großer Stressauslöser ist, der leider oft zu Streit führt, durch den ich mich noch einsamer fühle. 

23.04.2016
[...] Heute habe ich ziemlich viel gegessen. Aber nichts Ungesundes, da ich immer noch auf Zucker und Weißmehl verzichte. Das waren bestimmt wieder 4000-5000 kcal. Ich gebe mir in der Woche immer so viel Mühe, im Kaloriendefizit zu bleiben und am Wochenende mache ich mir alles kaputt, weil ich so viel fresse. 

Ich "muss" noch 3 Wochen auf Zucker verzichten. Bis dahin nehme ich mir vor, jeden Tag im Kaloriendefizit (1.470 kcal) zu sein. Nicht nur 6 Tage in der Woche. An Wochenenden mache ich mir meinen hart erarbeiteten Fortschritt total kaputt. Ich verzichte schon fast 9 Wochen auf Zucker und bin sonst im Kaloriendefizit (Sonntage ausgeschlossen). Bei 59 kg habe ich angefangen. Heute Morgen waren es 52,7 kg.

30.04.2016
Mein Bruder hat sich auf dem veganen Frühlingsfest eine frische Dinkelwaffel gekauft von der er mir ein Stück abgegeben hat. Das war das erste Mal nach 10 Wochen, dass ich wieder etwas mit Industriezucker gegessen habe. Zu Hause bekam ich einen Essanfall, weil mich der Zucker in der Waffel erheblich getriggert hat. Also aß ich noch viel mehr Industriezucker.
Ich stürzte mich auf die Schokolade, die ich mir schon vor Wochen gekauft habe für den Tag, an dem die Mission „Zuckerfrei" vorbei ist. 

Ich bin enttäuscht von mir, dass ich nur 10 anstatt 12 Wochen durchgehalten habe. 

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt