Mitte 2018 - Als ich anfing, das Fasten zu missbrauchen & Bewegung trotz OP

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Da ich für einen höheren Kalorienverbrauch regelmäßig laufen war, wollte ich gerne einen 10-km-Lauf wagen, der in Döhren stattfand. Den Döhrener Abendlauf lief ich mit mehr als 300 anderen Läufern zusammen. Mein Fitnesstracker nahm meine Aktivität fleißig auf und ich war so stolz, so viele Kalorien verbraucht zu haben. Mein Körper wollte seinen Tank natürlich wieder gerne auffüllen, aber ich wollte es ihm eigentlich nicht gönnen.

04.06.2018
Am 01.06. bin ich den Döhrener Abendlauf mitgelaufen. Schon nach 4 km war ich schon etwas erschöpft, obwohl ich normalerweise auch 8 km ziemlich gut schaffe. Ich wollte, dass es schnell vorbei ist, also habe ich meine ganze Kraft zusammengenommen und bin in 54 Minuten und 17 Sekunden 10 km gelaufen. Danach war ich komplett schweißgebadet. Zu Hause habe ich fast eine ganze 200 g-Packung Datteln gegessen. Dazu ganz viel Gemüse und Obst. Dann dachte ich mir spontan, dass ich am Wochenende faste. Das habe ich auch durchgehalten, aber der zweite Tag war noch härter als der erste, da es mir schwerfiel, mich zu bewegen.

So habe ich nun also das Fasten entdeckt, mit dem ich ungeplantes oder "zu viel" Essen super kompensieren konnte und damit schnell Gewicht verlor. Der Grund warum ich damit anfing ist, dass ich im Internet vom Intervallfasten las und mir die 5:2-Methode zusagte. Zwei Tage in der Woche wird gefastet, an den anderen Tagen darf man „normal", sich also satt essen.
Fasten kann solch eine heilende Wirkung auf den Körper haben, doch ich missbrauchte es als Instrument, mir selbst zu schaden.
Es löste großen Stolz in mir aus, wenn ich es aushielt, einen Tag nichts zu essen. Anfangs war es allerdings so, dass ich am Morgen nach dem Fastentag mit großem Heißhunger aufwachte und Obst und Gemüse in mich hineinstopfte, bis ich voll war, um den Hunger zu bändigen. Obwohl ich von dem Obst und Gemüse noch so gesättigt war, fiel mein Frühstück trotzdem größer aus und ich aß über meinen Hunger hinaus, da ich dachte, ich könnte es mir ja nun durch das Fasten erlauben.Das Gleiche passierte auch abends. Ich konnte nicht auf mein Sättigungsgefühl hören, da ich nicht wusste, wie ich das anstellen sollte. Durch die Essanfälle wusste ich überhaupt nicht mehr, wie ich mit Hunger und Sättigung umzugehen habe. Mir war nur ein prall gefüllter oder ein völlig leerer, hungriger Magen bekannt.
Mit der Zeit gewöhnte sich mein Körper an das Fasten und der Heißhunger reduzierte sich. So kam ich auf ein Gewicht von 45 kg. Mit diesem Gewicht schaute ich in den Spiegel und sah überall noch Stellen, an denen ich Ballast loswerden musste, weshalb ich weiter Gewicht verlieren wollte. 
Ich nutzte jede Chance, um mein Äußeres genau zu überprüfen. Das nennt sich auch Body Checking. Jede Möglichkeit zur Reflexion wurde genutzt, wenn ich mir sicher war, dass es unter anderen Menschen nicht auffiel. Das konnten Schaufenster in der Stadt sein, Spiegel auf öffentlichen Toiletten, die Glasscheibe in der Bahn-Tür, einfach alles Mögliche. Mit keinem Körperteil war ich zufrieden, da sich, in meinen Augen, überall zu viel Fett befand.
Ich fasste mir ständig an meinen Bauch, um wirklich sicher zu gehen, dass nicht auf einmal mehr Fettgewebe dazugekommen ist. Das tat ich auch öfter in der Öffentlichkeit und ich tat so, als wäre es völlig normal, damit ich nicht zusehr Aufmerksamkeit erregte.

Im Juni wurden mir endlich die Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt. In derselben OP hatte ich meine Mastektomie und wurde damit die weibliche Brust los. Ich fühlte mich so frei. Diese OP war mir ausgesprochen wichtig, da ich mir dadurch keine Sorgen mehr machen musste, die Menstruation (in meinem Fall eher die "Men-Struation") oder Zysten zu bekommen, die in mir immer unheimlichen Selbsthass auslösten. Außerdem musste ich mir danach nie wieder die Brust abbinden.
Mir wurden acht Wochen Sportpause verordnet. In meinem Kopf drehte das Monster durch. Es wollte die Sportpause nicht zulassen. Am ersten Tag nach der OP humpelte ich wie ein Greis im Patientengarten rum, um möglichst viele Schritte zumachen. Durchschnittlich waren es während des Krankenhausaufenthalts 8.000 Schritte täglich.
Mein Fitnesstracker war schließlich mein ständiger Begleiter und es fiel mir schwer, ihn vor der OP im Zimmer zu lassen.
In den paar Tagen des Krankenhausaufenthalts sollte ich mir viel Ruhe gönnen,doch das Monster zwang mich dazu, trotz der Schmerzen spazieren zu gehen. Den Krankenschwestern sagte ich, dass sich die Schmerzen im Zaum halten würden und das bisschen Bewegung kein Problem für mich wäre.
Wieder zu Hause ruhte ich mich etwa 2 Tage aus und aß viel, kam aber mental nicht damit klar, da ich mich extrem faul fühlte. Obwohl ich mir die Ruhe nach dem stressigen Schuljahr und nach der OP gönnen sollte, ging ich in den Sommerferien fast jeden Tag vier bis fünf Stunden am Stück spazieren, da mein Ziel 20.000 Schritte täglich waren. Schließlich durfte ich keinen intensiven Sport wie HIIT machen, also ging ich einfach stundenlang spazieren. An Fastentagen machte ich keine Ausnahme.
Nach diesen langen Touren hatte ich oft Schmerzen im Bereich der OP-Narbe, aber ich musste am Ball bleiben. Ich musste mich bewegen. Ich musste mehr Gewicht verlieren.
In der S-Bahn erlaubte ich mir nicht, zu sitzen. Stehen würde mehr Kalorien verbrennen. Die einzige Ausnahme, die ich machte, war, wenn ich nach der Schule mit Lenni zusammen in der Bahn war. Er setzte sich hin, wenn er  einen freien Platz fand, also setzte ich mich immer neben ihn. Ich wollte nicht, dass er erfuhr, wie schlimm mein Bewegungsdrang eigentlich ist.
Da ich also wusste, dass ich mich in der Bahn hinsetzen musste, wenn ich mit ihm fuhr, versuchte ich so oft wie möglich, das zu umgehen, indem ich eine Bahn früher nahm. Somit distanzierte ich mich von ihm. Generell zog ich mich immer mehr zurück und stellte unserer Freundschaft ein Bein.
Normalerweise versuchte ich, fröhlich rüberzukommen, aber auch dazu hatte ich keine Kraft mehr und man merkte mir an, wie gereizt ich war. Lenni musste das häufig spüren und es tat mir jedes Mal leid. Ich war zu ihm vollkommen abweisend, da mir nun alles zuviel war. Außerdem wurde ich wütend, wenn ich ihn und andere Menschen essen sah.
Wenn ich nicht essen darf, dann muss er auch hungern.
Sekunden später bereute ich derartige Gedanken. Er sollte nicht auf Nahrung verzichten, nur weil ich es tat.
Wenn ich in der Schule aß, fühlte ich mich unwohl und stresste mich selber, da ich mir nur erlaubte, in einer Pause zu essen. Also musste ich in 20 Minuten mein Frühstück unter Stress hinunterwürgen, obwohl ich normalerweise ein langsamer Esser bin. Sollte mich dann auch noch jemand beim Essen angucken,verunsicherte mich das zutiefst und ich wurde noch angespannter.
Jetzt sieht jeder wie ich schlinge.
Schaute Lenni mich an oder gab einen kurzen Kommentar zu meinem Essen ab („sieht lecker aus" reichte schon), hätte ich in solchen Momenten ausrasten können.Meine Vernunft ließ mich aber die Kontrolle behalten.
In der Schule konnte ich nie in Ruhe essen. Ich hasste es.

Das Gefühl, das ich spürte, wenn die Zahl auf der Waage kleiner wurde, gab mir den Eindruck, etwas vollbracht zu haben, woraus sich eine Sucht entwickelte. Das Gleiche galt für bewältigte Fastentage. Wenn ich trotz gewaltigem Hunger nichts aß, fühlte ich mich stark.
Deshalb praktizierte ich das Intervallfasten weiterhin, nachdem es mir im Krankenhaus gefehlt hat. Anstatt zu essen, schaute ich mir Mukbangs und ASMR mit Essgeräuschen an.
Mukbangs sind Videos, in denen Menschen meist übergroße Portionen an Essen vor ihrer Kamera verzehren. Kurz gesagt, sind das meistens einfach nur Essgelage, die aufgenommen und ins Netz gestellt werden. Die Essgeräusche beruhigten mich normalerweise immer. Je stärker jedoch mein Hunger wurde, desto aggressiver wurde ich auch. Anstatt mich zu beruhigen, regten mich die Mukbangs oft nur noch auf, weil die Leute essen durften, ich aber nicht.
Gegenden Hunger trank ich viel Tee in allen möglichen Sorten. Tee ersetzte meine Nahrung, füllte meinen Magen wenigstens für eine kurze Zeit und gab mir neben den Mukbangs ansatzweise das Gefühl, etwas gegessen zuhaben. Zudem brachte mir Tee ein wenig Geschmack. Mein Regal war voller Teesorten. Kräutertees, Gewürztees, Früchtetees, aromatisierte Tees. An Fastentagen verbrauchte ich oftmals mehr als zehn Teebeutel. Statt Essanfälle gab es für mich also Teeanfälle.
An Fastentagen erlaubte ich mir auch nicht, eine Vitamin B12-Tablette zu schlucken,weil ich nichts Festes zu mir nehmen wollte, auch wenn ich wusste, dass es keine Kalorien hat. Außerdem vermied ich es, Kokosöl auf meine Lippen zuschmieren, was ich normalerweise gerne machte. Wenn ich das machte, durfte es auf keinen Fall in meinen Mund kommen. Denn selbst drei Kalorien waren zu viel. 
Zwei Fastentage pro Woche reichten mir irgendwann nicht mehr, also setzte die kranke Stimme noch einen drauf und machte aus zwei drei Tage in der Woche, an denen es hieß: Null Kalorien. Montag, Mittwoch und Freitag oder Samstag. Deshalb fuhr ich oftmals am Wochenende nicht zu Konny und begründete es damit, zuviel mit der Schule zu tun zu haben, was eigentlich auch stimmte, aber so viel Zeit wie ich mit Schulaufgaben verbrachte, war nicht mehr im gesunden Bereich. Fast jede freie Minute nutzte ich zum Lernen oder für Hausaufgaben, um meine guten Leistungen aufrechtzuerhalten. Mein Gehirn brauchte nämlich viel Zeit, sich auf Schulzeug konzentrieren zu können, weil ihm die Energie schlichtweg fehlte.
Also zog ich mich am Wochenende lieber zurück, fastete und lernte anstatt zu Konny zu fahren. An drei Tagen nichts zu essen, spart viel Zeit, die ich somit ins Lernen investieren konnte.
Außerdem fastete ich länger als nur einen Tag. Es mussten immer mindestens 36 Stunden sein. Am Abend vor dem Fastentag gab es ab 20 Uhr nichts mehr zu essen und am gesamten darauffolgenden Tag. Am Tag nach dem Fastentag wollte ich aber nicht sofort nach dem Aufstehen essen, da ich mir das Frühstück erst verdienen musste. Mit Bewegung, mit Lernen oder mit beidem. Also erlaubte ich mir erst,ab 11:20 Uhr zu essen. Ich wählte diese Uhrzeit, da zu dem Zeitpunkt in der Schule die zweite Pause anfing. In den Sommerferien konnte ich mich also schon einmal darauf einstellen, auch in der Schule später zu essen. Ich durfte nicht früher essen. Tat ich das, dachte ich, ich hätte versagt, also musste ich durchhalten.
Kein logischer Gedanke half mir, zu verstehen, dass mich das Erreichen meines Zielgewichts von 40 kg auf lange Sicht erledigen wird. Ich fühlte mich gezwungen, einen BMI unter 17 zu erzielen. 16 hörte sich noch viel besser an,was für mich bedeutete, dass ich nach dem Erreichen der 40 Kilogramm noch ein weiteres Kilo verlieren musste. Niemand konnte mich zu der Zeit davon abbringen.
Als die Ferien vorbei waren und die Schule wieder anfing, hörte ich natürlich nicht mit dem Fasten auf. Konsequent hielt ich mich an die drei Tage.

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt