September 2014 - Restriktion & der erste Kontrollverlust

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05.09.2014
Ich habe 20 Stunden nichts gegessen. Kann sein, dass es sogar länger war.
Das Fasten habe ich damit gebrochen:
--> etwa 50-100g Obstsalat
--> etwa 200-300g Tomatensuppe
--> ein Hörnchen mit veganem Schokoaufstrich
Das Hörnchen hätte nicht sein müssen...
618 Kalorien, so in etwa.

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Um meine Ernährung im Überblick zu haben, zählte ich ab und zu Kalorien mit der App „My FitnessPal". Noch nahm ich das Ganze nicht zu ernst und schätzte die Mengen ab, die ich zu mir nahm. Die App benutzte ich noch nicht täglich, aber das änderte sich schon bald. Von Mal zu Mal wurde das Kalorienzählen strenger.
Während mein Essverhalten kritischer wurde, verglich ich mich vermehrt mit anderen in meinem Alter. Ich wollte in allem besser sein. Ich wollte gesehen werden.

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11.09.2014
[...] Morgen haben wir zum ersten Mal Spanischunterricht 😊 Ich hoffe, dass ich besser sein werde als die anderen. Ich will einmal etwas richtig gut können. [...]

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Dabei konnte ich etwas besonders gut: Zeichnen. Damals sah ich das aber nicht so, auch wenn es mir häufig gesagt wurde. Es fühlte sich zwar gut an, bewundert zu werden, aber solange man nicht mit sich selbst und seinen Leistungen zufrieden ist, wird einen das beste Feedback auch nicht glücklicher machen.

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15.09.2014
Ich habe morgens eine Scheibe Knäckebrot mit drei Gurkenscheiben gegessen. Eigentlich recht wenig.

Ich hatte zwei Knäckebrote mit. Eins gab ich Julia, um meinen Kalorienstand am Ende des Tages zu reduzieren. Das andere nahm ich und legte ein paar Gurkenscheiben drauf.

Zum Mittagessen gab es Soja-Schnitzel mit Pommes. Ich aß nur sechs Pommes und nur einen Bissen vom Soja-Schnitzel, weil es mir nicht schmeckte.

[...] Ich habe noch ein Franzbrötchen gegessen und es war total lecker, hatte danach aber totale Schuldgefühle. [...]

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Morgens ließ ich nun also das obligatorische Nutella-Toast und den Kakao weg. Meine Mutter und mein Bruder fanden das merkwürdig und teilten mir das auch mit, woraufhin ich mich angegriffen fühlte, aggressiv wurde und die beiden anschnauzte. Sie hätten ja keine Ahnung davon, dass ein Frühstück aus Kakao und Nutella-Toast absolut ungesund ist.
Einige Tage lang bestand mein Frühstück aus einem Knäckebrot und drei Gurkenscheiben, was über mich aussagte, dass ich selbst nicht die gesündesten Entscheidungen traf, denn schließlich hörte ich nicht auf meinen Hunger, sondern wollte ihn ignorieren. Und das musste ich fühlen, denn mein Körper wollte die Restriktion nicht akzeptieren und teilte es mir auf eine Weise mit, die mir nicht gefiel. Ich verlor die Kontrolle. Und das machte die depressive Phase, in die ich katapultiert wurde, noch schlimmer. Die depressive Phase wiederum, war das Fundament für weitere Essanfälle. Ein Teufelskreis entstand.
Essen lenkte mich von allem ab, was nicht so gut lief und betäubte für einen Augenblick die negativen Gefühle. Noch immer hatte ich keine richtigen Freunde gefunden, die für mich da waren. Freunde zu finden war sowieso aussichtslos, da ich meistens niemanden an mich heranließ. Zwar gab es ein Mädchen in meiner Klasse, mit dem ich mich gut verstand, aber das war's auch schon. Mit ihr über meine Sorgen reden zu können, war undenkbar. Von allen anderen fühlte ich mich ausgeschlossen. Dabei war ich derjenige, der sich selbst abkapselte, was, wenn ich es aus heutiger Sicht betrachte, im Endeffekt besser war, da mir auch heute Oberflächlichkeiten auf die Nerven gehen und ich diese aus meinem Leben fernhalten will. Ziemlich widersprüchlich für jemanden, der sich täglich mit seinem Äußeren befasst.
Äußerlichkeiten sind oberflächlich. Oberflächlichkeiten sind unbedeutend, das musste ich dringend in meinem Gehirn verankern.

Üblicherweise saß ich morgens mit meinem Bruder am Frühstückstisch, während sich meine Mutter auf dem Sofa aufhielt. Auch mittags aß sie nicht mit uns, obwohl sie das Essen kochte. Oftmals aß ich nach der Schule alleine, da mein Bruder eher zu Hause war als ich und mein Vater noch am Arbeiten war. Selbst am Abend kam es nicht häufig vor, dass die Familie gemeinsam aß.
Sobald ich mit anderen zusammen aß, verkrampfte ich mich und musste mich anstrengen, das Essen hinunterzuschlucken. In meiner Familie war die Anspannung nicht allzu groß, weshalb es für mich auch noch kein enormes Problem darstellte, mit ihnen zu essen. Nur die schlechte familiäre Stimmung belastete mich am Esstisch.
Ich fühlte mich wegen meiner sozialen Ängste so unwohl, wenn mich andere Leute essen sahen. Jeder Bissen wurde zur Anstrengung. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, nicht angespannt zu sein, desto mehr spannte ich mich an und desto nervenaufreibender wurde das Essen. Es wurde zur Unmöglichkeit, mit anderen entspannt essen zu können. In der Regel vermied ich deshalb Situationen, in denen es dazu kommen könnte, mit anderen zu essen.

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt