Im Herbst 2016 begann ich zum zweiten Mal eine Therapie. Diesmal bei einer neuen Therapeutin, die mich nun endlich verstand und mir half, selbstbewusster zu werden und meine sozialen Ängste so langsam abzulegen.
In erster Linie war ich jedoch wegen der Transsexualität bei ihr. Nicht, weil ich dachte, ich müsse davon geheilt werden (was nicht klappt, weil es keine Krankheit ist), sondern weil ich auf diesem schwierigen Weg eine Begleitung brauchte und die ganzen notwendigen Schritte sowieso nicht ohne einen Therapeuten bewältigt werden können.
Mein Wunsch war es, bald eine Hormonbehandlung beginnen zu können, um den Selbsthass ein Stück weit abzulegen.
Für die Hormonbehandlung brauchte ich vorher ein Indikationsschreiben von meiner Therapeutin und ein weiteres Gutachten von einer anderen Fachperson.
Von meinem gestörten Essverhalten erzählte ich selten und viel zu oberflächlich, da ich mich sehr dafür schämte und nicht den Anschein erwecken wollte, nichts im Griff zu haben. Möglichst niemand sollte wissen, was ich mit meiner Gesundheit anstellte. Aber ich traute mich endlich, mit meinen Eltern offener über mein Essproblem zu sprechen und heulte mich nach Fressanfällen oftmals bei ihnen aus. Mein Vater war zwar kein guter Ansprechpartner für diesen Kummer, da er ständig so etwas sagte wie „Pass auf, dass du nicht zu viel isst.", aber ich war so verzweifelt, dass ich mich irgendjemandem anvertrauen musste.
Meine Mutter hat solche Sprüche nicht ganz so oft gebracht und hat versucht, mich nach Vorfällen, in denen ich die Kontrolle verlor, zu trösten, indem sie mich in den Arm nahm.
In solchen Momenten war es mir egal, dass ich mich eigentlich von meiner Mutter bzw. von ihrer kranken Psyche distanzieren wollte.Bei dem Angebot an Leckereien in der Adventszeit, verschlimmerten sich die Essanfälle mal wieder. Es ging immer auf und ab. Seit Jahren. Mal hielten sich die Essanfälle in Grenzen und Mal entarteten sie vollends.
„Die Weihnachtszeit ist eine gute Ausrede für heftige Fressanfälle. Ich belüge mich selbst ganz gewaltig."
So schrieb ich es in mein Tagebuch.
Silvester war auch nicht viel besser. Den Jahreswechsel verbrachte ich alleine in meinem Zimmer. Mit mehr als genug Essen. Vorher musste ich aber zwei Stunden Sport machen, um mir das Essen zu verdienen.
Essen war der Ersatz für soziale Kontakte und Liebe.
Allerdings konnte ich mich immer in meinem Tagebuch ausheulen und schrieb meine Wünsche und Ziele für das folgende Jahr auf. Ein Punkt auf dieser Liste war selbstverständlich „Ich möchte nicht mehr süchtig nach Essen sein und endlich das Maß kennenlernen".Das Jahr 2017 fing damit an, dass ich mir mal wieder ein gesundheitliches Problem einbildete. Diesmal war ich mir sicher, dass ich eine Blinddarmentzündung hatte, weil ich einen unangenehmen Druck im rechten Unterbauch spürte. Dieser Druck kam durch die häufigen Essanfälle, aber nicht durch eine Blinddarmentzündung. Die Ultraschalluntersuchung ergab, dass ein Teil meines Darms leicht geschwollen war, und sich in meiner Gebärmutter (die ich aktuell schon länger nicht mehr habe) drei Zysten gebildet haben, da bei mir die Periode schon sehr lange ausblieb (durch zu viel Sport und insgesamt zu wenig Nahrung, abgesehen von den Fressanfällen), aber es war nichts Besorgniserregendes. Doch ich machte die Pferde verrückt und bekam Panik, dass es doch etwas Ernstes sei.
Immerzu steigerte ich mich in solche Kleinigkeiten rein. Genauso war es auch bei dem angeblichen Darmpilz im jahr davor.
Um die Schwellung zurückgehen zu lassen, verschrieb mir der Arzt ein Abführmittel (Laxatan M). Als es nach ein paar Tagen wirkte und meine Verdauungsbeschwerden endlich nachließen, fühlte ich mich unglaublich erleichtert.
Frei von Ballast. Rein und leer. Genauso sollte es sich anfühlen. Also kaufte ich eine Großpackung von diesem Mittel und nahm es regelmäßig um das reine Gefühl beizubehalten.Körperlich ging es mir nun besser, aber psychisch wurde ich von meinem Vater unter Druck gesetzt.
So langsam sollte ich mir überlegen, was ich nach meinem erweiterten Realschulabschluss machen möchte.
Mein Vater meinte, mir Angst machen zu müssen, mit der Vorstellung, irgendwann Arbeitslosengeld zu bekommen, weil ich keine guten Berufsaussichten mit einer Sozialphobie habe und sofort abgeschoben werde. Er war der Ansicht, ich solle endlich Geld verdienen, um schnell ausziehen zu können. In seinen Augen sollte ich direkt nach meinem Realschulabschluss eine Berufsausbildung beginnen.
Das war der klare Beweis, dass mein Vater mich schnellstmöglich loswerden wollte.
Er gab oft solche Dinge von sich, mit denen er mir sagte, ich sei unerwünscht und würde nur eine Belastung für die Familie sein.
Mit 16 Jahren war mir jedoch noch nicht klar, welchen Beruf ich irgendwann ausüben möchte.
Immerhin war mir klar, dass der Beruf etwas mit Ernährung zu tun haben muss, ich aber für eine Berufsausbildung noch nicht bereit war.
Ich wollte den Erwartungen meines Vaters nicht gerecht werden, sondern etwas machen, womit ICH zufrieden war.
Im Internet fand ich dann zum Glück etwas, was ich mir vorstellen konnte. Die Berufsschule für Gastronomie und Lebensmittelhandwerk in Hannover bot zum ersten Mal das berufliche Gymnasium mit dem Schwerpunkt Ökotrophologie (Ernährungswissenschaften) an, weshalb ich mich im Februar 2017 an dieser Schule beworben habe und auch angenommen wurde.
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Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlen
RandomEine sehr persönliche Geschichte, die durch sämtliche Höhen und Tiefen einer Essstörung und deren Genesung geht. Realitätsnah. Emotional. Echt. (TRIGGERWARNUNG: Gewicht, Kalorien, Depressionen, Selbsthass)