Das Fasten während der Schulzeit wurde immer unerträglicher, da es kälter wurde und ich weniger als 45 kg wog. Selbst als es noch Sommer war, brauchte ich eine Decke, um mich tagsüber zu wärmen.
Als ich noch mit einem gesunden Gewicht gefastet habe, habe ich mich körperlich gar nicht so schwach gefühlt, sondern meist sogar recht gut. Körperlich jedenfalls, denn mir war nie schwindelig und ich hatte tatsächlich mehr Energie als sonst. Psychisch war es jedoch immer nur ein Verbot, welches meinem Selbsthass, nicht aber meiner Selbstliebe oder meiner Selbstakzeptanz diente.
Ich dachte also, dass ich mit diesem niedrigen Gewicht einfach weiterfasten konnte wie bisher, denn „Ich habe es vorher doch auch ohne Probleme geschafft."
Ich war stolz auf mein Untergewicht. Ich war stolz auf die Knochen, die ich nun endlich spüren konnte. Ich war stolz darauf, den Hunger ständig auszuhalten. Ich war stolz darauf „Nein" zum Essen sagen zu können.
Dennoch konnte mein Stolz aus der körperlichen Schwäche, die durch den Mangel an Fettreserven kam, keine Kraft zaubern. Als ich mit dem Fasten anfing, hatte ich noch genug Reserven, die für meine Leistungsfähigkeit sorgten. Doch mit abnehmendem Gewicht hatte ich weniger Reserven, die mir Energie gaben. Der Körper kommt zwar eine Zeit lang ohne Nahrung aus, doch nur, wenn er genug Fettgewebe hat. Und bei mir wurde es langsam knapp. Also wollte mein Körper die Energie, die ihm noch blieb, sparen. Ich wurde immer langsamer. Alles, was ich machte, nahm auf einmal so viel mehr Zeit in Anspruch und wurde zur anstrengenden Herausforderung.
Lernen, Lesen, Gehen, Kochen, Reden (die Zunge benötigt schließlich auch Energie). Ich konnte mich kaum mehr konzentrieren und musste auch in der Schule ununterbrochen ans Essen denken. Meine Antworten klangen verwirrt, so als könnte ich nicht anständig denken. Und das konnte ich auch nicht. Mit welcher Energie hätte ich das tun sollen? Mein Körper bekam von mir gerade genug, um zu stehen. Auch für langsames Atmen reichte es noch. Das machte mich oft ziemlich panisch, da ich immer sehr kontrolliert und angestrengt atmen musste, um bloß nicht damit aufzuhören.
Für mich war es alleine schon eine Herausforderung, meinen Körper warm zu halten. Ich war permanent am Frieren. Und es war kein einfaches Frieren, welches an kalten Tagen auftritt. Ich fror von innen heraus. Mein Körper war unterkühlt, was die Schulzeit noch katastrophaler machte. Meistens saß ich steif auf meinem Stuhl und rieb meine Handflächen aneinander, um vergeblich für ein bisschen Wärme zu sorgen. Für ein wenig mehr Wärme sorgte der Liter Tee, den ich jeden Tag in meiner Thermoskanne dabei hatte. Trotzdem war mir weiterhin kalt. Ich trank einen Schluck Tee und dieser wärmte mich für ein paar Sekunden. Dann musste ich wieder einen Schluck trinken. Und wieder. Und wieder. Und wieder.
Trank ich Wasser, wurde mir noch viel kälter und mir war schon kalt genug. Noch mehr Kälte hätte mich umgelegt. Wahrscheinlich hätten nicht einmal 3 Liter Tee seinen Dienst getan, um mich ausreichend zu wärmen. Ein paar Kilo Körperfett mehr hätten mir jedoch geholfen.
Das Frieren war an Fastentagen schon kaum auszuhalten, aber noch höllischer wurde die Kälte nachdem ich die erste Mahlzeit nach dem Fasten zu mir nahm. Die Nahrung musste nämlich erst einmal verdaut werden, was Energie kostete, die mein Körper nun erst recht nicht in die Wärmeproduktion stecken konnte. Außerdem mussten diese 600 Kalorien bis zum Abendessen reichen.
Nach der Schule fühlte ich mich immer tot. Der Hunger und das Frieren machten mir zu schaffen und nagten an meinen letzten Energiereserven. Wenn es kein Fastentag war, musste ich mich aber, sobald ich zu Hause war, durch den Sport quälen. Ohne Ausnahme. Danach wurde gekocht und selbst dabei musste ich Übungen wie Klimmzüge und Liegestütze machen, obwohl ich doch schon mit dem eigentlichen Workout fertig war. Aber ich dachte mir „Je mehr Sport, desto mehr Kalorien verbrenne ich und desto mehr Gewicht werde ich verlieren." Für mich zählte jeder Schritt, jede Liegestütz, jeder Klimmzug und jede Kalorie.
Der Stress hielt den ganzen Tag an.
Also war ich froh, dass ich mir erlaubte, an Fastentagen nach der Schule auszuruhen, wenn man das so nennen kann. Ich saß mit Wärmflasche am Schreibtisch, eingekuschelt in meiner Decke, machte Hausaufgaben und trank literweise Tee. Das Lernen zehrte jedoch auch an meinen Kräften und wurde beschwerlicher, je mehr Gewicht ich verlor.
Wusste meine Mutter, dass ich fastete, wollte sie das natürlich nicht zulassen und wünschte sich von mir, dass ich etwas aß: „Kim, bitte iss was! Ich mache dir auch etwas zu Essen."
Sie machte sich Sorgen und versuchte, sich um mich zu kümmern und mir die Liebe zu geben, die sie mir in den vielen Jahren, in denen sie unter Depressionen litt, nicht geben konnte. Aber ich konnte und wollte es oft nicht annehmen, also bekam sie von mir gereizt zu hören: „Nein verdammt! Ich werde nicht essen!"
Brachte sie mir eine Schüssel Obst in mein Zimmer, reagierte ich ablehnend und wutentbrannt.
Hat sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich werde NICHT essen. Keinen Bissen. Sie soll sehen, wie stark ich bin. Sie soll sehen, wie gut ich darin bin, mich kaputt zu machen. Wenn sie das kann, indem sie sich gehen lässt, zeige ich ihr, dass ich die Selbstzerstörung auch beherrsche.
Aber Starksein war etwas Anderes.
Jede Bewegung, die ich machte, wurde zur Höchstanstrengung. Treppensteigen war intensivster Sport. Jeder Gang zur Toilette (vor allem nachts) wurde zur Qual, wenn ich lange nichts gegessen habe.
Aufstehen, dem Kreislauf etwas Zeit geben, Schritt für Schritt zum Badezimmer humpeln, auf den Toilettensitz fallen lassen, wieder aufstehen.
Wenn in meinen Kopf nichts mehr hineinpassen wollte und ich hundemüde und erschöpft war, ging ich ins Bett. An Fastentagen wollte ich immer früher schlafen gehen, damit ich den Hunger und die Schwäche nicht weiter spüren musste. Doch mein Kopf war so voll, dass meine Gedanken mich wach hielten. Schulstress und Essen. Darum drehte sich nun alles und es machte mich wahnsinnig. Mein Körper hatte das Hungern satt und wünschte sich von mir, in Ruhe essen zu können, aber der Stress hinderte ihn daran. Warum überhaupt noch essen, wenn ich dabei sowieso keine Ruhe finde?
Wenn ich aß, wollte ich es gerne genießen, aber es gelang mir nicht. Stattdessen spürte ich während des Essens, wie das Adrenalin durch meine Adern schoss, da schon die Zubereitung meiner Mahlzeit der reinste Stress war und sehr lange (meistens über eine Stunde) dauerte. Alles musste perfekt sein, denn sonst würde es mir nicht schmecken. Später beim Essen musste alles schnell gehen, weshalb ich am Schlingen war.
Ich habe keine Zeit zum Essen. Ich muss lernen und mich an den Berg voller Hausaufgaben setzen.
Wenn ich Zeit hatte und/oder mit anderen aß, nahm ich mir beim Essen unendlich viel Zeit und kaute jeden Bissen so oft wie nur möglich. So würde ich länger etwas von der Mahlzeit haben. Somit war ich immer traurig, wenn ich aufgegessen hatte, da ich genau wusste, ich muss auf die nächste Mahlzeit länger als einen Tag warten.
Nach dem Abendessen und den Schularbeiten ging es gestresst ins Bett.
Durchschnittlich schlief ich vier bis sechs Stunden, da ich häufig mitten in der Nacht wach wurde und meist nicht mehr einschlafen konnte. So kam zum Energiemangel noch der Schlafmangel.
Mein Körper wollte essen, nicht schlafen. Mein Körper hielt mich wach, damit ich die Möglichkeit hatte, zu essen. Unser Überlebensinstinkt ist wirklich erstaunlich. Das Gehirn lässt nicht zu, dass der Körper viel schläft, damit wir in der Lage sind, uns Nahrung „zu suchen". Mein krankes Hirn wehrte sich dagegen. Das Monster erlaubte mir die Nahrung nicht.
Doch selbst wenn es nicht am Hunger lag, so lag es garantiert am Stress, den die Essstörung und der Perfektionismus auslöste. Wer kann denn schon gut schlafen, wenn er kontinuierlich unter Strom steht?
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Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlen
RandomEine sehr persönliche Geschichte, die durch sämtliche Höhen und Tiefen einer Essstörung und deren Genesung geht. Realitätsnah. Emotional. Echt. (TRIGGERWARNUNG: Gewicht, Kalorien, Depressionen, Selbsthass)