November 2014 - erste Kompensationsgedanken & "Cheat Days"

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01.11.2014
[...] Ich fühle mich so schlecht. Für das Lesetagebuch habe ich versucht, den Comic zu zeichnen. Keine Chance. Die Kraft dazu fehlte mir. Ich hielt den Stift und konnte nichts aufs Papier bringen. Abends habe ich irgendwas gekritzelt und dann ist mir klar geworden: ICH KANN NIX! ICH BIN TALENTLOS! ICH KANN NICHT ZEICHNEN! ICH BIN EINFACH SCHEIßE! ICH BIN NIX WERT! ICH BIN NUTZLOS!
Ein halbes Dutzend Gründe, weshalb es sinnlos ist, noch weiterzuleben.

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Anfang November hatte ich den ersten Termin bei meiner Psychotherapeutin, wo ich hauptsächlich die Depressionen und die Sozialphobie behandeln ließ. Über mein gestörtes Essverhalten äußerte ich mich selten und eher oberflächlich, da ich mich dafür schämte. Sie war für mich keine gute Therapeutin, da ich vor ihr das Gefühl hatte, mich für jede Kleinigkeit rechtfertigen zu müssen, weil sie immer den Eindruck machte, sehr verständnislos zu sein und meine Sorgen nicht nachvollziehen zu können. Statt eine große Hilfe zu sein, war sie ein Grund, weshalb sich mein Befinden, vor allem meine Angst, verschlimmerte.


08.11.2014

[...] Wegen der Fressanfälle habe ich bestimmt schon drei kg zugenommen. Das macht sich auch schon bemerkbar. Am liebsten will ich am Tag nur 300 kcal höchstens zu mir nehmen. Aber das krieg ich ja einfach nicht hin. Wo bleibt meine Kontrolle? [...]

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Wenn meine Mutter trotzdem Lebensmittel kaufte, die auf meiner Verbotsliste standen, bekam sie meine Wut zu spüren. Sie hielt sich nicht an meine aufgestellten Regeln, weshalb ich ihr sogar sagte, dass ich sie hasse.
Sie versuchte mir alles recht zu machen, soweit es ihr eigenes Befinden zuließ, aber wenn ich mir die Brille des essgestörten Verhaltens aufsetzte, machte sie in meinen Augen alles falsch. Obwohl sie unter meiner Unzufriedenheit leiden musste, tröstete sie mich trotzdem oft genug und ich war der Überzeugung, dass ich es wegen meines verletzenden Verhaltens ihr gegenüber nicht verdient hatte.

12.11.2014
[...] Zu Hause gab es zwei Valess-Schnitzel, also die fleischfreien, mit Pommes und Ketchup. Dann habe ich mir einen Maxi King genommen und einmal abgebissen. In dem Moment wurde mir wieder das Wichtigste klar: Ich will doch einfach abnehmen.
Danach habe ich also nichts mehr gegessen. Eigentlich will ich essen. Total gerne sogar, aber ich muss mehr Kontrolle erlangen und das kann ich am besten, wenn ich mir das Essen verbiete. [...]

18.11.2014
Heute Morgen habe ich wieder Schwarzbrot mit Frischkäse und Blaubeeren gegessen. Danach wollte ich nichts mehr essen. Kein Mittagessen. Kein Abendbrot.
Habe dann zu Mittag doch etwas gegessen: Nudelauflauf, Stracciatella-Joghurt und Keksbrei (vier Prinzenrolle-Kekse mit warmer Milch). Julia hat mir jetzt schon so oft von diesem Keksbrei erzählt, dass ich es nicht lassen konnte und es nun auch einmal ausprobieren musste.
Ich kann nicht verstehen, wieso sich mein Kopf vor solchen Fressanfällen immer ausschaltet und ich dadurch nicht mehr klar denken kann. Es heißt dann nur noch „Hunger, Hunger, Hunger" und alles andere ist gleichgültig. Alles andere existiert nicht mehr. Nur noch Essen. Nichts anderes. Rein gar nichts.

19.11.2014
[...] Die GANZE ZEIT dachte ich nur daran, mich umzubringen, indem ich mir die Pulsadern aufschneide. Ich war mir so sicher, das zu machen, weshalb ich mir in meinen Gedanken einen Plan machte, wie und wann und wo ich es am besten machen sollte. Doch zu Hause heulte ich laut los und sagte meiner Mutter, dass ich mich umbringen will und mir diese Gedanken Angst machen.
Später war sie beim Schulleiter um mit ihm über meine Situation zu reden. Die Lösung ist jetzt erstmal reduzierter Unterricht (vier Stunden Schule am Tag) und keine Hausaufgaben.

21.11.2014
[...] Gestern war ich nicht in der Schule. Am Abend hatte ich einen Fressanfall, weil ich den ganzen Tag Hunger hatte. Ich habe ein Rosinenbrot mit Nuss-Nougat-Creme gegessen und dieses Crunchy Schoko-Müsli von Edeka. Danach wollte ich kotzen. 50 kg wiege ich momentan. Viel zu viel.
Heute Morgen war der Frischkäse leer, also habe ich stattdessen Quark auf mein Vollkornbrot geschmiert und Blaubeeren draufgelegt, aber es schmeckte mir nicht, also habe ich 49 Gramm Blaubeeren gegessen.
Zum Mittag habe ich eine kleine Schüssel griechische Reisnudeln in einer Tomatensoße gegessen.
So rückenfreundlich wie es ging, habe ich eine halbe Stunde Sport gemacht.

Wer nicht (auf seinen Körper) hören will, muss fühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt