2. Kapitel

861 67 12
                                    

Die erste Woche verlief relativ ruhig. In der alten Schule hingegen konnte ich es nicht einmal eine Stunde aushalten, was mich die Schule nun zumindest aushalten ließ.

Wie jeden morgen stellte ich mich in Unterwäsche auf die Waage und wartete gespannt auf das Ergebnis.  50,2 kg! Ich hatte es nicht geschafft. Noch 5kg weniger und ich hätte mein Traumgewicht erreicht. Würde Oliver diese Dinge über mich wissen, würde er nicht einmal mit mir reden wollen. Die Jungs mit denen ich mich angefreundet hatte kannten mich gerade erst eine Woche,  was bedeutete, dass sie nur das nötigste wussten und nichts von meinen Geheimnissen ahnten.

Nach der Schule hatte Oliver mich überredet mich nach Hause zu fahren.  Ich nahm es dankend an und schwieg die meiste Zeit über. ,,Uhmm....Paige?" brach er plötzlich die unangenehme Stille. Ich sah zu ihm und hörte neugierig zu.

,,Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest..mit...uhm..mit mir auszugehen?" er war eindeutig nervös und konzentrierte sich nur auf die Straße. Überrascht über diese Frage sah ich auf meine Finger und bekam mit, wie wir vor meinem Haus stehen blieben.

,,Tut mir wirklich leid,  aber ich muss leider nein sagen." antwortete ich und blickte zu ihm. Er war sichtlich traurig. Aber ich konnte nicht zulassen nochmal verletzt zu werden und deshalb durfte ich nichts mit ihm anfangen. ,,Auch nicht freundschaftlich?" fragte er mich nun. Ich konnte die Hoffnung in seiner Stimme hören. ,,Komm morgen abend zu mir. Wir können Filme gucken oder sowas." sagte ich und stieg aus. Er wartete bis ich drin war und fuhr dann erst weg.

Als ich erleichtert mein Zimmer betrat, zog ich mich zuerst um, bevor mein Vater anklopfte. ,,Hey Liebling,  wie war die Schule?" fragte er lächelnd. ,,Gut" antwortete ich kalt.     ,,Das freut mich sehr" meinte er und verließ mein Zimmer.

Ich fragte mich weshalb jemand wie Oliver mit jemanden wie mir ausgehen wollte. Vielleicht lag es daran,  dass er mich einfach nicht kannte. Würde er wissen, dass ich unter Bulimie leide und mich ritze und am liebsten sterben würde,  würde er sicher nichts mit mir zutun haben wollen.

Am nächsten Morgen entschied ich mich dazu nicht zur Schule zu gehen, da meine Eltern früh zur Arbeit fuhren und Hunter gerade das Haus verlassen hatte um seine Freundin abzuholen,  würde es sowieso niemand merken. Ich richtete mich auf und lief dann ins Badezimmer,  wo ich eine kalte Dusche nahm und mich danach erneut wog.

49,7kg. Meine Mundwinkel bewegten sich hoch und ich spürte dieses typische Erfolgsgefühl.

Zufrieden zog ich mir meine Jeans und einen schwarzen Metallica Pullover an, bevor ich nach unten lief und mir einen Tee kochte.

Danach setze ich mich an meinen Schreibtisch und begann etwas zu zeichnen.  Langsam entwickelte sich das gezeichnete zu Oliver. Bei dem Anblick meiner Zeichnung musste ich schmunzeln.  Es zeigte ihn,  wie er zur Seite blickte und ihm dabei die Haare ins Gesicht fielen.

Mein Magen begann plötzlich zu knurren, was mich schlecht und gleichzeitig auch gut fühlen ließ. Ich nahm einen großen Schluck Tee und widmete mich wieder der Zeichnung.

Nachdem mein Tee leer war, lief ich in mein Bad und holte die kleine Schachtel mit den Klingen hervor. Ich krempelte meine Ärmel hoch und betrachtete meine unzähligen Wunden. Ein Lächeln huschte mir über die Lippen bei dem Gedanken daran wieder etwas zu spüren und das Blut zu beobachten. Langsam zog ich einen tiefen schnitt über meinen Arm. Dies wiederholte ich ein paar mal und sah mir an, wie das Blut meine Wunden verließ. Es gab mir ein gutes Gefühl,  deshalb setzte ich es nochmal an und drückte die Klinge 5 weitere male in meine Haut.

Als es schließlich aufhörte zu bluten, wischte ich das restliche noch weg und hielt meinen Arm im Badezimmer unters Wasser. Bei den Schmerzen zog ich meine Lippen zu einer Linie zusammen und trocknete schließlich meinen Unterarm. Zuletzt nahm ich mir noch einen Verband und band es um die Wunden.

Am abend lag ich im Bett und hatte die Musik inzwischen etwas leiser gedreht. Meine Eltern waren unten am kochen während es plötzlich an der Tür läutete. Ich stand genervt auf und lief nach unten.

,,Hey" begrüßte mich Oliver. ,,Hey" sagte ich sanft und bat ihn herein.      ,,Oben erste Tür links" erklärte ich,  bevor ich aus der Küche etwas zu trinken und zwei Gläser holte. Meine Mum zwinkerte mir lächelnd zu woraufhin ich nur genervt meine Augen verdrehte.

,,Wie geht's dir?" fragte er mich.          ,,Gut" gab ich emotionslos von mir und setzte mich auf mein Bett,  während er an meinem Schreibtisch saß. Er nickte nur und sah sich in meinem Zimmer um. ,,Was wollen wir machen?" fragte er nun. ,,Keine Ahnung,  was willst du denn machen?" antwortete ich lustlos.          ,,Dich besser kennenlernen" meinte er sofort. ,,Das willst du nicht" sagte ich und trank viel Wasser um mein magenknurren zu verhindern. ,,Ich frage dich etwas und du antwortest" entschied er gutgelaunt. ,,Nein!" fauchte ich ihn an und kassierte einen geschockten Blick. ,,Okay" antwortete er sauer. Ich konnte spüren wie unwohl er sich hier fühlte. ,,T-tut mir leid,  mir geht's heute nur nicht besonders gut.  Was war nochmal die erste Frage?" versuchte ich die Situation zu retten. ,,Ich wollte wissen ob du Geschwister hast" ,,Einen Bruder, Hunter" antwortete ich und lächelte schwach. Er nickte und überlegte eine neue Frage. ,,Alter?" ,,18" sagte ich und lächelte heftiger als ich bemerkte, dass er Spaß daran hatte.

Nach 1/2 Stunden voll mit witzigen und auch ernsteren fragen fing er plötzlich an etwas tiefer in die Tasche zu greifen und die Wahrheit über sich zu erzählen. ,,Ich glaube schon, dass man mit dir über alles reden kann." sprach er und grinste. Ich nickte nur und hörte ihm wieder zu. Er erzählte vieles über seine Familie und dass seine Eltern geschieden waren. Außerdem erzählte er mir, dass er vor mehreren Jahren gemobbt wurde und sehr übergewichtig war. Langsam verstand ich, wieso er so nett zu mir war und vor allem weshalb er so dünn war. ,,Mit 15 fingen meine Depressionen an und ich war bis 17 Suizid gefährdet. Ich habe auch begonnen...mich...zu ritzen und...ich habe lange sehr wenig gegessen, weil ich Angst hatte nochmal so zu werden wie früher." erzählte er mit feuchten Augen.  Ich wusste nicht,  was mit mir geschah, doch er hatte es geschafft mich im Herzen zu berühren.  Ich sah, wie sehr er darunter litt und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Wie konnte so ein Junge sowas verdienen?  Er war immer am grinsen und auch so positiv und jetzt wusste ich warum. Er war genauso wie ich.  Er konnte seine reale Welt hinter seinem Lächeln verbergen.       ,,Hey, du musst nicht wegen mir weinen" sprach er beruhigend auf mich ein. Ich spürte wie sich die Matratze leicht senkte und er danach seine Arme um mich schlang. Ich drückte ihn etwas fester und weinte in seine Brust. Es  war lange her, dass ich wegen dem Leben eines anderen Menschen geweint hatte.

Wenig später hatte ich mich beruhigt. ,,Alles okay?" fragte er mich besorgt. Ich war der Meinung es ihm zu erzählen.

Einfach alles, doch gleichzeitig hatte ich Angst davor abgewiesen zu werden genauso wie mit Luke vor einem Jahr.  Er war mein bester Freund gewesen, doch als ich ihm die Wahrheit erzählte ließ er mich alleine und machte sich in der Schule mit den anderen über mich lustig.

Ich wollte das alles nicht nochmal erleben, doch Oliver würde mich bestimmt verstehen, oder?

||Sleepwalking||o.s|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt