Scherbenmeer

4 - Tödliche Überraschung (1)

„...und vor allem dieses Jahr ist in unserer Geschichte sehr prägend für die Musik, denn..."
Ashley blinzelte und erwachte langsam aus ihrem Tagtraum. Sie hatte wieder einmal aus dem Fenster gestarrt und die Welt um sich herum vergessen. Woran sie eben noch gedacht hatte wusste sie nun auch nicht mehr so genau, doch das gab ihr die Gelegenheit sich der jungen Professorin auf Bewährung zu widmen.
Sie war erst seit wenigen Wochen hier und soll ihre Künste unter Beweis stellen.
Nun, laut Ashley hatte sie das bereits getan. Sie mochte noch nicht viele Stunden unterrichtet haben, aber sie hatte dennoch schon sehr viele Stunden hier überlebt und das war ein Wunder.
Neulinge wurden von den älteren Studenten nicht unbedingt gut aufgenommen.

Man konnte es als kindisch bezeichnen, doch es war nun einmal wie es war.
Die junge Professorin hatte bereits ein brennendes Auto, eine untergejubelte Bombe, mehr als eine Morddrohung und mehrere Angriffe überlebt und jedes Mal fragte sich Ashley, wie diese Frau morgens aufstehen und weitermachen konnte. Allein die Tatsache, dass sie es hier mit Erwachsenen zu tun hatte und nicht mit pubertierenden Jugendlichen, war verstörend genug.

Zwar nicht für Ashley, denn sie kannte diese Umgangsweise ja, aber für die arme Frau. Für Liv sowieso.
Es kam in dieser Uni zu schon wesentlich schlimmeren Dingen und auch in der Schule standen Lehrermorde so ziemlich auf dem Tagesplan.
Ashley erinnerte sich noch an den ersten Tag, als ein Lehrer tot im Pausenhof gehangen hatte. Damals war sie sich sicher gewesen, Liv würde verschwinden und nie wieder kehren.
Das wäre auch passiert, hätte Ashley nicht tausende Fäden gezogen und sie an Ort und Stelle gehalten. Damals wurde ihr auch klar, dass sie Liv nicht so offen in diese Welt laufen lassen durfte. Sie musste die grausamen Taten verschleiern, Liv davon abschirmen, so gut es ging.

Das hatte bis heute auch relativ gut geklappt. Liv glaubte Ashley teilweise mehr, als den Medien und eindeutigen Berichten in der Zeitung, doch lange könnte Ashley die offensichtlichen Spannungen nicht verschleiern.
Ihr ging nicht nur Layla durch den Kopf, sondern nun mal auch der Angriff damals. Wieso hatten zwei Blood Pearls einen Black Shadow Wolf angegriffen? Was hatten sie überhaupt in ihrem Territorium verloren?
Sie nahm sich in diesem Gedankengang auch vor, Michelle zu fragen, ob er vielleicht mehr wusste. Ob es nur ein Zwischenfall war? Nein, Zwischenfälle gab es bei Derricks Gang nichts. Entweder sie griffen an, oder sie ließen es bleiben.

Müde rieb Ashley sich über die Schläfen und sah auf ihr leeres Blatt hinunter, auf dem sie seit eineinhalb Stunden bereits Notizen hätte machen sollen.
Ihr Studium schleifte sehr, doch den Umständen entsprechend war das nicht verwunderlich.
Die Uhr an der Wand über der Eingangstür zeigte, dass es nur mehr knappe drei Minuten waren, bis dieser Kurs und damit der letzte für heute, beendet sein würde.
Auch Liv hatte heute schon am frühen Nachmittag Schluss, so könnten sie vielleicht sogar zusammen ins Dusk 'til Dawn gehen. Kaffee trinken, über Jungs lästern und die Welt für einen kurzen Moment zum Stehen bringen.
Ashley wusste, dass sie eigentlich kein Recht hatte sich das herauszunehmen, denn die Zeit hatte sie nicht. Seit Tagen hatte sie keinen Blick mehr auf die Zahlen geworfen, die im Geschäft liefen, noch hatte sie sich erkundigt, ob es irgendwo Probleme gab, die sie zu beheben hatte.
Es kribbelte in ihren Finger, bei diesem Gedanken, denn das letzte Mal, wo sie wissentlich jemanden getötet hatte war schon viel zu lange her.

Dann endlich klang das Signal, dass auch diese Vorlesung zu Ende war und Ashley eilte nach draußen. Nicht das auch diese Professorin auf die Idee käme sie anzusprechen.
Im Flur ging sie vorerst zu ihrem Schließfach, in dem sie ihre Sachen verstaute und auf Liv wartete.
Besagte tauchte auch kurz darauf auf, hatte ihre viel zu große Tasche geschultert und hielt einen Muffin in der Hand, auf dem sie herumkaute.

„Hi.", begrüßte Ashley ihre beste Freundin und diese murmelte etwas zwischen ihren Bissen zurück. Schweigend, beziehungsweise Essend, gingen sie den Flur hinunter bis sie in den Hof kamen.
„Wollen wir noch ins Café?", fragte Ashley gespielt nebenbei, doch tatsächlich schüttelte Liv den Kopf.
„Ich muss noch ein Projekt vorbereiten...", erklärte sie, auf ihre Tasche zeigend und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.
„Kein Problem, dann sehen wir uns morgen?", umarmte Ashley sie und Liv nickte.