Sechste Verzierung

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Kurzschlussreaktion

"Remember, your words can plant gardens or burn whole forests down."

Gemma Troy

„Das war's mit der heutigen Vorlesung. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende", der ältere Dozent lächelt einmal in die Runde, ehe er zu seinem Laptop läuft und die Präsentation beendet. In Windeseile packe ich meine Sachen zusammen und laufe los, um zu meinem Wagen, das auf dem Parkplatz der Universität steht, zu gelangen. Ich kann es kaum erwarten nach Stuttgart zu fahren.

„Ich habe gehofft dich hier zu treffen", höre ich eine tiefe — mir inzwischen viel zu vertraute — Stimme sprechen, während ich mir aus dem Kofferraum eine Wasserflasche rausnehme. Ich schaue überrascht auf, denn Vahap hat heute eigentlich keine Vorlesungen — wir haben unterschiedliche Wahlmodule gewählt, weswegen sich unsere Stundenpläne minimal unterscheiden. Mein Blick gleitet unwillkürlich von den graugrünen Augen zu den tätowierten Armen und schließlich wieder zu Vahaps Gesicht. „Wieso denn? Und wieso bist du überhaupt an deinem freien Tag an der Uni?", ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und laufe um den Wagen, um meinen Rucksack und die Wasserflasche auf dem Beifahrersitz abzulegen. „Ich weiß es nicht", er seufzt tief, vergräbt die Hände in den Jackentaschen und zuckt mit den Achseln. Keine Minute später stehe ich vor ihm, und musterte ihn kritisch. Er wirkt angespannt und das irritiert mich. „Ich denke, dass ich dich sehen wollte, ehe ich für eine etwas längere Zeit zu meiner Familie fahre. Ich würde dich eigentlich auf einen Kaffee einladen wollen, dann kommst du aber in den Feierabendverkehr und verfluchst mich vermutlich", er grinst und zeigt mir dabei seine geraden Zähne, doch liegt eine gewisse Müdigkeit hinter seinen Worten. An seinen beiden Wangen erscheinen seine Grübchen, die ein komplettes Kontrast zu seinem Gesamtaussehen darstellen — denn dadurch wirkt der sonst so unerreichbare, gefährliche Typ plötzlich so kindlich. „Ohne Zweifel würde ich dich verfluchen", ich lache leicht, „aber du kannst dir sicher sein, dass ich irgendwann auf dein Angebot zurückkomme." Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht lautlos. „Weißt du Mina", er blickt mir tief in die Augen — vielleicht bis in die Seele —, „da ist etwas an dir, das mich fasziniert. Ich glaube es ist dein selbstbewusstes, aber nicht abgehobenes Auftreten." Er mustert mich und als er realisiert, dass sein Kompliment mich in Verlegenheit bringt und meine Wangen zu glühen beginnen, verziehen sich seine Mundwinkel zu einem noch breiteren Grinsen, als vorhin. Dieses Mal kommt es vom Herzen, das spüre ich.
„Wie lange bist du weg? Soll ich dir meine Mitschriebe schicken, oder reichen dir die von Gerrit?", komme ich auf seine Aussage zurück und lenke gekonnt von mir ab. Meine Stimme zittert und ich kann mir nicht erklären, wieso. „Ich hoffe nicht länger als zwei Wochen", vorsichtig kratzt er sich am Nacken, „das würde mich meinen Job kosten. Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir deine Mitschriebe schickst. Gerri wird mir seine zwar such zuschicken, aber doppelt hält besser." Seine Haltung ist zurückhaltend, von dem Jungen, der am Anfang der Woche sorglos seinen Arm um meine Schulter gelegt hat, mir von seinen Tattoos erzählt hat, sich mir geöffnet hat, ist keine Spur zu finden. Ich frage mich, was wohl innerhalb dieser wenigen Tage passiert ist, dass er länger zu seiner Familie fahren muss.
„Ich bin da, falls du reden möchtest", ich schenke ihm ein vorsichtiges Lächeln und als er meinen Blick auffängt, lockern sich seine angespannten Schultern. „Ich weiß", er nickt, kommt zwei Schritte auf mich zu und zieht mich in eine Umarmung. Überrumpelt stehe ich einige Sekunden regungslos da, ehe ich meine Arme um sein Kreuz lege und die Geste erwidere. „Fahr vorsichtig", flüstert Vahap und löst sich von mir. Ich nicke wie paralysiert, steige in meinen Wagen ein und fahre los. Er winkt mir noch lächelnd zu und beobachtet mich beim Ausparken.

Die Fahrt nach Stuttgart verläuft zu meiner Überraschung deutlich angenehm — ich bin nicht in den Feierabendverkehr geraten und habe mich deswegen nicht über unfähige Verkehrsteilnehmer beschweren müssen. Gerade als ich in die Straße meines Elternhauses einbiege, klingelt mein Handy und automatisch ziehen sich meine Augenbrauen zusammen.
Efsanes Name, der auf meinem Display erscheint, lässt mich stutzig werden, denn normalerweise ruft mich die Schwester meines besten Freundes nicht oft an. „Mina Abla?", ihr Stimme klingt panisch und scheinbar ist sie das auch. „Efendim canım? (Was ist, Liebes)", kann ich sie noch gerade so fragen, bis sie mir ihre nächste Frage stellt. „Bist du schon in Stuttgart?", ich kann nicht verhindern, dass ihr Handeln mich nachdenken lässt, sodass ich ihr leicht zögernd antworte. „Ja, wieso denn?", sobald ich ihr antworte, atmet Efsane erleichtert auf. „Habe mich mit meinem Bruder gestritten", sie legt eine kurze Pause ein. „Ich habe ihn verletzt", wispert sie ganz leise.

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