VAHAP
Familie
„I wonder why I feel I am treated like an enemy in a place where l am supposed to be welcome."
Ich folge Minas Vater stumm, bis er vor einem Zimmer stehen bleibt und die Türklinke runterdrückt. Er deutet mir an, zuerst einzutreten, weswegen ich nicke und einen vor der anderen Fuß setze. Sobald er die Tür hinter sich schließt, dreht sich Azad Amca mit einem mitfühlenden Lächeln zu mir und breitet die Arme zu einer Umarmung aus. Perplex schaue ich ihn ohne Regung an, weswegen er lachend den Abstand zwischen uns verringert und die Arme um mich legt. „Familie kann Fluch oder Segen sein, Vahap. Meine eigene war ein Fluch, meine neu gegründete ist ein Segen. Man kann sich seine Eltern und seine Geschwister nicht aussuchen", er seufzt tief und löst sich aus der Umarmung. „Komm", er deutet auf Minas Bett und nimmt am Fußende Platz.
„Ich bin der Jüngste von vier Kindern und meine Eltern haben mir immer wieder klargemacht, dass ich ungeplant war. Mich haben nicht meine Eltern großgezogen, sondern meine Großeltern", er atmet tief durch. Ich merke, auch ohne Azad Amca zu kennen, dass diese Wunde in seinem Herzen tiefer geht, dass er trotz allem nicht über diese Probleme hinweggekommen ist. „Ich war achtzehn, als ich komplett auf mich allein gestellt war", er unterbricht sich erneut, dieses Mal füllen sich seine Augen, was mich schon erahnen lässt, was passiert ist. „Meine Großeltern sind mit meinem Cousin bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das war der Moment in meinem Leben, wo ich alles verloren habe, was mir heilig war, alle Menschen, die mich auf familiärer Ebene geliebt haben", er senkt den Blick auf seine Hände und steht anschließend auf, um zu Minas Schreibtisch zu laufen. Als er dort nach einem Bilderrahmen greift, das Bild mit einem traurigen Lächeln mustert und zurückläuft, weiß ich bereits, wer darauf abgebildet ist. „Das sind meine Großeltern und Fatih", er deutet auf das ältere Paar und den Jungen mit dem frechen Grinsen. Obwohl mehrere Jahre vergangen sein müssen, erkenne ich, dass die vierte Person auf dem Bild Azad Amca ist. Er steht neben seinem Großvater und strahlt übers ganze Gesicht.
„Mina hat von all meinen Kindern die engste Bindung zu den Dreien, deswegen hat sie dieses Bild hier und auch in Frankfurt", er lächelt leicht und fährt über den weißen Bilderrahmen. „Mina war zehn Jahre alt, als mein Vater verstorben ist. Sie hat dort realisiert, dass die Bindung zwischen uns keine klassische Vater-Sohn-Bindung war, dass das, was zwischen uns war, sehr schwierig war", erneut seufzt er, doch will das Bild vor meinen inneren Augen — Mina als Kind, wie sie schon damals alles und jeden genauestens gemustert und mit ihren Blicken analysiert hat — nicht verschwinden. „Dann habe ich ihr irgendwann erzählt, dass ihr Großvater lange Jahre sauer auf mich war, weil ich nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte. Weil ich Maschinenbau studiert habe, anstelle von Medizin. Weil ich mich seinen Plänen nicht gefügt habe", die Worte rollen nur so über Azad Amcas Lippen und ich weiß, dass ich nach diesem Gespräch entweder vollkommen in der Familie Balta willkommen geheißen werde oder er mich nie wieder sehen will.
„Dabei war sauer so ein harmloses Wort. Mein Vater hat mich verachtet und aus der Familie verbannt. Ich durfte keinen Kontakt zu meinen Geschwistern haben und alle, bis auf die Jüngste von ihnen, haben das einfach so hingenommen. Meine Nichten und Neffen dachten jahrelang, dass ich im Ausland gelebt habe und sie deshalb nie besucht habe", entsetzt starre ich zu Minas Vater, der nun den Bilderrahmen nur noch fester in seinen Händen hält.„Meine Mutter hasst mich, weil ich meinen Bruder bei der Polizei verpfiffen habe", flüstere ich irgendwann in die Stille und überrascht blickt Azad Amca zu mir. „Was hat er verbrochen?", fragt er vorsichtig, was mich unwillkürlich lächeln lässt. Als mir jedoch einfällt, worüber wir sprechen, verfinstert sich meine Mine binnen weniger Sekunden.
Ich erzähle ihm von meinem Bruder, seinen Machenschaften, wie er mich benutzt hat und von dem Tag, als ich dahinter gekommen bin. „Hätte er irgendetwas anderes verbrochen, etwas womit er andere Leben nicht direkt in den Abgrund zieht", ich atme tief durch und schaue zu Azad Amca. „Dann wärst du ihm nicht in den Rücken gefallen", beendet er meine Worte, weswegen ich perplex nicke. „Ich würde das meinem eigenen Bruder niemals antun. Ich hätte mich von ihm distanziert, hätte ihn aus meinem Leben gestrichen, aber das ging über meine Toleranzgrenze. Er hat mich mit einem Messer angegriffen, als er mich zuhause gesehen hat, nachdem die Polizei seine Übergabe gesprengt hat", meine Hand wandert automatisch zu meiner Wunde. Ich möchte nicht mehr an jenen Tag denken, möchte die Schmerzen nicht spüren, die ich mir nur einbilde, wenn ich über das Thema spreche. „Wie alt warst du?", fragt Azad Amca im Flüsterton, als würde er meine Wunde aufreißen, nur wenn er etwas lauter spricht. „Ich war 15. Inzwischen sind so viele Jahre vergangen und noch immer kann ich mich haargenau an jenen Tag erinnern. Ich weiß noch immer, wie sich das Messer in mir angefühlt hat, wie schmerzhaft es war", ich schließe die Augen und schüttle den Kopf, als könnte ich so diese Gedanken wieder loswerden. Ein schmerzvolles Geräusch verlässt Azad Amca Kehle und ohne Umschweife zieht er mich in eine Umarmung, die ich nur dankend erwidere. Ich kenne diesen Mann gerade einmal seit einigen Stunden und doch fühle ich mich neben ihm wohler, als neben den meisten Menschen aus meinem Bekanntenkreis.
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Geziert
Fiksi Remaja„Wie beginnt wohl die Geschichte jeden Kriegers? Bei den meisten mit Menschen, die einem einreden wollen, dass man etwas nicht schafft. Und so war es auch bei meinem persönlichen Krieger, meinem Helden... Vahap." Zufrieden schaue ich auf die ersten...